Der Mensch von Morgen, Interviews Umdenken

Digitalisierung: Ein Spagat zwischen zwei Welten

Ranga Yogeshwar, Foto: H. G. Esch

Interview mit Ranga Yogeshwar, Wissenschaftsjournalist

Ranga Yogeshwar ist nicht nur ein leidenschaftlicher Wissenschaftler, sondern auch ein begnadeter Wissensvermittler. In einem Interview spricht er über den schnellen, digitalen Wandel, den Umgang mit neuen Technologien und die Chancen der Digitalisierung.

Herr Yogeshwar, gerade war es noch angesagt, bestmöglich vernetzt zu sein, doch jetzt fühlen sich mehr und mehr Menschen mit der digitalen Realität überfordert. Wie ist das Phänomen zu erklären?


Ranga Yogeshwar: Fortschritt bringt immer eine gewisse Bipolarität mit sich. Auf der einen Seite scheinen viele Menschen zunächst mit diesem schnellen Wandel überfordert zu sein, auf der anderen Seite adaptieren sie auch vieles. Mit einem Alter von gerade einmal elf Jahren ist das Smartphone mittlerweile zur Selbstverständlichkeit geworden.

Es ändert sich also sehr viel in sehr kurzer Zeit, was Neuland für uns ist. Außerdem befinden wir uns in einer Phase, in der sich viele Menschen fragen, wo sich ihr Platz in einer diffusen Zukunft befindet. Das hat eine gewisse Verunsicherung zur Folge.

Wieso fällt uns ein „gesunder“ Umgang mit der digitalen Welt so unfassbar schwer?

Vieles ist noch in der Geburtsphase, für das es bisher noch keine etablierten Regeln gibt. So entwickelt sich zum Beispiel gerade das Bewusstsein für Datenschutz. Die Datenschutzgrundverordnung war ein erster Schritt für einen gesellschaftlichen Konsens. Ich vergleiche das gerne mit einem großen, digitalen Kontinent, der gerade entdeckt wurde. Am Anfang kamen die Konquistadoren und Cowboys, die die Welt unzivilisiert und ohne Regeln eroberten.

In ähnlicher Weise erleben wir das heute. Wir werden in den nächsten Jahren viel über Ethik, aber auch über Verwendungs- und Kombinationsmöglichkeiten von Daten nachdenken; über Grenzen der Künstlichen Intelligenz und über die Frage der Rechenschaftspflicht von Algorithmen. All das passiert momentan global und gleichzeitig und es ist unsere Aufgabe als Generation, diese noch fehlenden festen und globalgültigen Regeln zu setzen.

Wenn ich über meine Smartphonenutzung nachdenke, fällt mir auf, dass ich ständig das Bedürfnis habe, mein Smartphone zu checken. Den Fokus beizubehalten und im Hier und Jetzt zu bleiben wird zur echten Herausforderung. Daddeln Freunde bei einer Verabredung mit ihrem Handy, fühle ich mich vernachlässigt. Wieso haben wir ständig das Gefühl, etwas zu verpassen?

Das Smartphone vereinigt eine Fülle an verschiedenen Funktionen. Es ist Postkasten, Telefon, Telex, Fotoapparat, Navigationsgerät und Geschäft in einem, was dazu führt, dass wir viel auf dieses Gerät zugreifen. Vor der Benutzung wären wir zum Briefkasten gegangen, hätten eine Landkarte aufgeschlagen oder mit einer Kamera Fotos aufgenommen.

Jetzt verschmilzt alles in einem Apparat. Nach der Uhr ist das Smartphone das erste Gerät, das wir ständig am Körper tragen. Ob gut oder schlecht, es ist zu einem Teil der Organisation in unserem Leben geworden. Durch den ständigen Fokus auf das Mobiltelefon schleicht sich allmählich das Gefühl ein, wir würden ständig etwas verpassen. Bei einigen führt es dazu, dass sie dem Apparat die Priorität vor der Realität geben.

Um diese Lebensqualität wiederzuerlangen, raten Experten zu Achtsamkeitstraining und digitalem Detox. Ist es der richtige Weg, mit diesem Problem umzugehen?

Ja, dieses Phänomen haben wir auch in anderen Entwicklungen erlebt. Wie hätten die Menschen, die vor hundert Jahren auf dem Land arbeiteten, wohl über ein Fitnessstudio gedacht? Sie hätten wahrscheinlich mit dem Kopf geschüttelt und ihr Unverständnis kundgetan. Entwicklungen, die in eine Richtung gehen, haben also auch immer Entwicklungen in die entgegengesetzte Richtung zur Folge.

Beim Thema Essen ist das Phänomen auch gut zu beobachten. Durch die Möglichkeiten der industriellen Lebensmittelfertigung und des Convenience Foods fangen die Menschen an, mit regionalen Möhren und regionalem Fleisch zu kochen – wohlwissend, wo es herkommt. Und in Zeiten, in denen die chemische Industrie in der Lage ist, jedes Aroma künstlich nachzubilden und Lebensmittel mit Konservierungsstoffen haltbar zu machen, kommt plötzlich die gegenteilige Bewegung: Der Trend,
Essen ganz natürlich – ohne Zusatzstoffe, Färbung und Aroma – zuzubereiten. Wir erleben also immer einen Spagat zwischen der einen und der anderen Welt und gehen irgendwo dazwischen unseren eigenen Weg.

Manches Hotel in den Bergen wirbt sogar damit, kein WLAN zu haben und in einem Funkloch zu liegen. Sogar Digital Detox Camps gewinnen zunehmend an Zuspruch. Erscheint es nicht paradox, dass Menschen in einer Welt, die nie zuvor so vernetzt und digital war, Geld dafür ausgeben, im Urlaub offline zu sein?

Ja, es ist paradox. Genauso paradox ist es, beim Essen zu sagen, dass man nur regionales Gemüse ohne jegliche Zusatzstoffe möchte. In einer Zeit, in der die Kiwis aus Australien kommen und künstliche Aromen Inhaltsstoffe eines Joghurt sind, wird vielen dieser Widerspruch immer bewusster. Aber genau diesen Widersprüchen begegnen wir tagtäglich: So steht das Fitnessstudio beispielsweise im Widerspruch zu einer motorisierten Mobilität.

Würden wir nur noch zu Fuß gehen und jede Motorisierung ablehnen, kämen wir nicht allzu weit. Würden wir uns nur von regionalen Lebensmitteln ernähren, hätten wir es unterwegs nicht ganz so einfach. Es geht vielmehr darum, dass sich etwas einpendelt. Wenn wir gemeinsam Essen gehen, möchten wir uns genießen und nicht, dass jeder auf seinen Bildschirm schaut. Denn dafür hätten wir uns nicht treffen müssen. Zwar passiert so etwas am Anfang, aber irgendwann etabliert sich eine neue Art darüber zu denken und zu handeln.

Apropos Widerspruch: In Ihrem neuen Buch „Nächste Ausfahrt Zukunft“ testen Sie in einem Selbstexperiment, wie man mit einem „infizierten“ Handy abgehört werden kann. Wie fühlt es sich an, dass ein elektronisches Gerät so viel Macht über einen selbst hat und es jeden Schritt aufzeichnet?

Es machte mir bewusst, wie viele Informationen tagein tagaus von uns gesammelt werden. Ganz gleich, ob wir bei Google etwas suchen, bei Facebook etwas posten oder unser Handy infiziert ist. Bei dem Experiment war der einzige Unterschied, dass es sehr bewusst stattfand und genau protokolliert wurde, welche Informationen im Detail gesammelt wurden. Das zeigt ganz deutlich, dass uns immer noch das Bewusstsein und die Sensibilität für die digitalen Daten und deren Sammlung fehlt.

Dass ein Fremder nicht ungefragt in unser Haus eintreten darf, ist uns jedoch bewusst. Digital betrachtet, gleicht dies einem Tag der offenen Tür, bei dem ständig Firmen eintreten und schauen, ob wir da sind, was
wir essen und was wir tun. Würden wir das illustrieren, würden viele die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und dieses Verhalten als Ding der Unmöglichkeit erklären. Bis das Feingefühl für Privatheit und Besitz von Daten besteht, öffnen wir Institutionen mit einem kleinen Haken bei den Allgemeinen Geschäftsbedingungen den Zugang zu unserem Privaten.

Besonders durch den Cambridge Analytica Skandal im März 2018, bei dem sich die britische Firma persönliche Daten von zig Millionen Facebook-Nutzern beschafft hat, sind viele misstrauisch geworden und entziehen sich vermehrt den sozialen Netzwerken. Scheint das der richtige Weg zu sein oder sollte der Umgang mit den sozialen Medien gelernt und unser eigenes Verhalten besser reflektiert werden?

Zum Teil. Wir müssen aber auch politisch darauf einwirken. Beispielsweise mit der Forderung von Rechenschafts- und Offenlegungspflichten. Man merkt, dass es sich nicht mehr um unschuldige Spielereien handelt, sondern die Themen zunehmend an Relevanz gewinnen. Viel wichtiger aus meiner Sicht ist eine politische Debatte.

Es bedarf klarer Konventionen, die das Verhalten regulieren. So wie es im Straßenverkehr der Fall ist. Eigentlich sollten wir begreifen, dass man in einer Stadt langsam fährt und man auf die anderen achtet. Das Fehlverhalten im Straßenverkehr hatte gesetzliche Konventionen wie Verkehrsregeln, Blitzgeräte und Ampeln zur Folge, die uns davor bewahren, Dinge zu tun, die uns und unseren Mitmenschen schaden würden.

Die Zeitspanne, die neue Entwicklungen zum Durchbruch brauchen, wird immer kürzer. Während
das Telefon sich erst nach Jahrzehnten durchsetzte, schafften es der Computer, das Internet und das erste Smartphone in wesentlich kürzerer Zeit. Der technische Wandel beschleunigt sich und mit ihm der dadurch ausgelöste soziale Wandel. Dabei scheinen Algorithmen bedrohlich, etwa wenn es um künstliche Intelligenz geht und um die „Singularität“ genannte Angst, dass kluge Maschinen bald ohne den Menschen auskommen. Wie stehen Sie dazu? Können Sie das nachvollziehen?

Die prinzipielle Frage ist, ob die Maschinen irgendwann alles übernehmen werden. Vielmehr hat die KI in vielen Dinge unseres Lebens bereits Einzug erhalten, ohne dass wir es bewusst wahrgenommen haben. Tippen wir auf unserem Smartphone und erhalten Wortvorschläge, ist das KI. Werden Staus über Verkehrsflusssysteme angekündigt, dann steckt dahinter KI. Bewerben wir uns auf ein interessantes Stellenangebot, nutzen viele Unternehmen die KI, um ein Vorab-Recruiting durchzuführen.

Schauen wir uns die Medizin an, kommt auch dort und in vielen weiteren Branchen KI zum Einsatz, ohne dass wir es mit großen Schlagzeilen erfahren. Besonders für die künstliche Intelligenz ist Reflektion unheimlich wichtig: Was ist der Effekt davon? Was passiert, wenn wir bspw. beim Recruiting KI einsetzen? Erreichen wir dadurch unsere Ziele oder verpassen wir dadurch wohlmöglich sogar Chancen? Es gilt also nicht nur die Euphorie der neuen Technik zu sehen, sondern auch die Sinnhaftigkeit der Anwendung genauer zu hinterfragen.

Lassen Sie uns ein kleines Gedankenexperiment machen: Max ist Mittzwanziger und Philosophiestudent. Ihn faszinierte die digitale Welt, bis Datenskandale und zu viel Input ihn nur noch nervten. Also beschloss er, all seine Profile in den sozialen Medien zu löschen, sein Smartphone zu verkaufen und von nun an dauerhaft offline zu sein. Hat Max überhaupt eine Chance, in einer digitalen Welt zu leben, ohne selbst digital zu sein?

Natürlich besteht diese Chance. Genauso gibt es ja auch Menschen, die ohne Strom leben oder die das Auto ablehnen. Ich glaube, die Antwort besteht nicht in einem prinzipiellen „ja“ oder „nein“. Vielmehr geht es um einen reflektierten Fortschritt. Achtsam zu sein, was der Fortschritt mit einem macht und welchen Raum man ihm gibt.

Bin ich also jemand, der bei jeder E-Mail verrückt wird oder traue ich mich, auch mal konsequent offline zu sein? Das mache ich zum Beispiel. Ich habe im Sommer eine Auto-Reply, in der steht: „Ich lese keine Mails, ich bin offline. Ich werde sie später nicht lesen, ich lösche sie.“ Diese Konvention habe ich mir gesetzt. Es geht also um den reflektierten Umgang mit den neuen Technologien, den wir an ganz vielen Stellen allerdings erst noch lernen müssen.

Wir leben in einer spannenden Zeit, in der sich viel verändert. Welche Potenziale bringt die Digitalisierung mit sich und wie können wir sie in unseren gesellschaftlichen Fortschritt integrieren, ohne dass wir gesellschaftliche oder politische Verluste erleiden müssen?

Ich würde nicht von Verlusten, sondern eher von Chancen sprechen. Denn wir haben die Chance, die Welt zu einer besseren zu machen. Oft sehen wir nur das Schlechte; anstatt einmal genau hinzuschauen und zu sehen, dass die Welt durch viele Innovationen besser geworden ist. Viele denken aber, dass wir uns in einem Abwärtstrend befinden und die Welt gewalttätiger geworden ist.

Die Fakten zeigen jedoch genau das Gegenteil: die Welt ist friedlicher denn je. Durch die kommerziellen Medien erleben wir eine Art „Erregungsbewirtschaftung“. Um ihre Klickraten und Verweildauern zu
optimieren, heben die Medien Negatives hervor, weshalb wir die Welt auch negativer sehen, als sie ist. Es gilt nun diese Spirale zu durchbrechen und gemeinsam festzustellen, dass die Welt besser ist, als sie medial dargestellt wird.

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