Ausgehend von der im Master-Seminar Journalismus in Theorie und Praxis aufgeworfenen Grundfrage „Ist unsere Demokratie in Gefahr?“ soll in diesem Essay ein Blick in die Welt der Kunst geworfen werden. Gerade unter dem Brennglas Corona ist die Forderung nach Unterstützung durch die Politik wieder lauter vernehmbar. Die Kunst findet sich mit der existenziellen Sinnfrage konfrontiert und inwiefern sie in einem solchen Ausnahmezustand Einfluss auf die Gesellschaft und Politik nehmen kann.
Dieser Debatte übergeordnet ist die Frage der politischen Kunst im Allgemeinen und der gesellschaftlichen Haltung innerhalb des Kunstbetriebes. Können Künstler, Künstlerinnen und Kulturschaffende überhaupt unpolitisch sein und handeln? Dieser Ausgangsfrage widmet sich dieses Essay. Dabei werden Aussagen von verschiedenen Akteuren, mit denen ich im Rahmen des Seminars Gespräche geführt habe, exemplarisch aufgegriffen, interpretiert und weitergedacht.
Politische klassische Musik
Die Welt der klassischen Musik betrachtend, das Genre mit dem ich mich am Besten auskenne, ist das Politische höchstwahrscheinlich nicht die erste Zuschreibung. Wie auch? Auf den ersten Blick gibt es keine rhetorische, den möglichen politischen Inhalt niederschwellig und direkt vermittelnde Ebene. Ausgeklammert seien an dieser Stelle alle Kunstformen, die unter den Begriff des Musiktheaters fallen. Die politische Haltung von „absoluter Musik“ kann sich nicht durch Text vermitteln, sondern hauptsächlich durch biographische Aspekte, Überlieferungen, historische Kontexte oder Anekdoten rund um den Komponisten, den Interpreten oder die Entstehung des Werkes.
Als Beispiel könnte hier Dmitri Schostakowitschs Symphonie Nr. 5 Pate stehen, mit der sich der beim Stalin-Regime in Ungnade gefallene Komponist rehabilitieren konnte und die Symphonie somit durch diese tragfähige politische Komponente rezipiert wurde und wird. Generell gesprochen, haben sich die Werke der Klassik zum Großteil durch Denkmalpflege kanonisiert. Das Werk wird oft als unantastbar aufgefasst und ist höchstens durch Interpretation zu unterscheiden.
Dieser Argumentationslinie folgend, haben die Aufführenden der Werke durch ihre Interpretation die Aufgabe übernommen, die möglichen politischen Inhalte zu vermitteln. In den Konzertsälen unserer Zeit findet diese Ebene der Vermittlung aber zumindest nur sehr selten statt. Auf einer personenbezogenen Ebene heißt das: Wenn sich die Inhalte also nicht direkt durch die Musik erschließen, muss es zusätzliche Aspekte geben, die einen Musizierenden zu einem politischen Künstler oder einer politischen Künstlerin macht.
Freie Kunst, freie Meinung
Wir bewegen uns im übergeordneten Raum der Kunstfreiheit: Jede Künstlerin oder jeder Künstler darf sich individuell, frei und ohne Zensur ausdrücken. Ein hohes Gut, das ein wichtiger Bestandteil unserer gesellschaftlichen Grundordnung ist. Sobald man dieses Grundrecht bewusst mitdenkt, könnte ein Mensch in seiner Rolle als Künstler oder Künstlerin im Prinzip schon als politisch gelten.
Der Schweizer Künstler Elia Rediger spricht von Kunst als Zusammengehörigkeit stiftende Gesellschaftskomponente. Aus seiner Sicht gehen deshalb die Rolle als Bürger und Künstler existenziell Hand in Hand, sie bedingen einander. Ein nachvollziehbarer Punkt. Übertragen auf andere Arbeitsfelder lässt sich ebenfalls behaupten, dass der Beruf identitätsstiftend und charakterbildend sein kann.
Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist der eigene Standpunkt innerhalb einer geographischen Größe, des Kulturbetriebes oder eben der Gesellschaft. Laut dem Hamburger Musikmanagement Professor Martin Zierold ist es schon ein politischer Akt sich diese Fragen zu stellen, oder diese auszuklammern. Ein politischer Mensch innerhalb des Kunstkontextes ist deshalb auch ein politischer Künstler und umgekehrt.
Ein Gedankenexperiment
Es folgt ein Gedankenspiel, bei dem wir eine fiktive Instrumentalistin in ihrem Konzertalltag begleiten. Bevor sie überhaupt beim Veranstaltungsort ankommt, profitiert sie schon von der Reisefreiheit innerhalb der EU, angenommen das Konzert würde im Ausland stattfinden. Gleiches gilt für die anderen Musiker und Musikerinnen, die Helfenden und das Publikum.
Elia Rediger versteht das Veranstalten eines Konzerts als Zusammenbringen von Menschen, die zu einem kleinen humanistischen Verein werden. Sie gründen diesen immer wieder aufs Neue. Ein schöner und romantisch wirkender Gedanke. Damit könnte man jedes Konzert als politischer Akt verstehen, auch wenn sich der agierende Musiker oder die agierende Musikerin dessen gar nicht bewusst ist. In diesem Fall könnte ein Künstler oder eine Künstlerin zwar eine unpolitische Haltung einnehmen, aber nicht unpolitisch handeln.
Historischer und gesellschaftlicher Kontext
Im nächsten Schritt ist auf dem Weg zum Konzert unserer Instrumentalistin der Blickwinkel der Veranstalter und somit der Kulturschaffenden interessant. Die Musik nochmal als Ganzes betrachtet, wurde bereits angedeutet, dass sie in sich nur schwer politische Aspekte vermitteln kann. Kein Konzertveranstalter ist aber frei von den biographischen oder geschichtlichen Einflüssen eines Werkes. Diese Ebene fordert allerdings eine vorherige Auseinandersetzung mit dem Werk.
Dieser Vermittlungsaufwand dürfte einer der Gründe sein, warum viele klassische Musik oft als elitär und uninteressant ansehen. Durch die beschriebene Auseinandersetzung stehen die Stücke eines Konzertabends, egal ob vom Musizierenden oder Veranstaltenden ausgewählt, immer in einen Kontext, der durchaus politisch sein kann oder zumindest eine gesellschaftliche Position bezieht. Als Beispiel müssen wir uns nur ein vor der Klagemauer in Jerusalem gespieltes Werk von Richard Wagner vorstellen. Durch dessen Antisemitismus käme man in diesem Kontext mindestens in Erklärungsnot.
Demokratisierung der Kulturorganisationen
Die bewusste Kontextualisierung kann ohnehin ein wichtiger Aspekt eines Konzerterlebnisses sein und wird von immer mehr ‚Konzertdesignern‘ mitgedacht. Durch neue Herangehensweisen, Darstellungsformen und Kontexte von Festivals, Konzerthäusern oder anderen Veranstaltern können potenziell neue Besuchergruppen erreicht werden. Das führt zu einer Veränderung der Zuschauerstruktur und hat somit eine direkte Auswirkung auf die Gesellschaft. Auch dieser Aspekt ist laut Martin Zierold als politisch einzuschätzen.
Wenn Ensembles, Kollektive oder ganze Orchester sich in ihrer gesamten Organisation dem alten hierarchischen, oft personenzentrierten Führungsprinzip der Kunst entgegenstellen und basisdemokratische Strukturen implementieren, ist das nicht nur innerhalb der eigenen Organisation als politisch zu verstehen, sondern kann auch einen gedanklichen Kulturwandel im Makrokosmos des Kunstbetriebes und somit vielleicht auch in der Gesellschaft auslösen.
Beispiele hierfür sind das ohne Dirigenten und Noten spielende STEGREIF.orchester oder das durch Idealismus und Freude der Musizierenden gespeiste Ensemble Reflektor. Für das Modell der Demokratisierung von Musikschaffen sind verschiedene Parameter für das Gelingen notwendig, wie Martin Zierold beschreibt. Damit hat er sicherlich recht, umso höher ist der Mut und die Innovationskraft solcher Ensembles zu sehen.
Die Bühne nutzen
Doch zurück zu unserer fiktiven Instrumentalistin und ihrem Konzert. Nicht nur die Auswahl der Stücke, sondern auch die der Künstler und Künstlerinnen von Seiten der Veranstalter kann ein politisches Statement sein. Bleiben wir beim Beispiel des Judentums: Wenn ein Pianist wie Igor Levit bei einer Preisverleihung aus seinen biographischen Erfahrungen heraus einen flammenden Appell gegen Antisemitismus in der heutigen Zeit hält, nutzt er nicht nur die Bühne um sein politisches Anliegen loszuwerden. Das Zugeständnis dieser Redezeit durch die Veranstalter ist als ein ebenso politisches Zeichen zu verstehen.
Natürlich muss auch hier differenziert werden: Wie Elia Rediger im Interview etwas überspitzt, aber richtig anmerkt, ist das Verbreiten kryptischer politischer Botschaften oder das Spielen zeitgenössischer Musik an sich noch keine politische Kunst, selbst wenn dies vom Künstler oder von der Künstlerin intendiert sein sollte. Hier kommt das große und oft schwer greifbare Argument der Authentizität aus Sicht der Rezipierenden ins Spiel. Also ob das Publikum dem Künstler seine Haltung abnimmt, auch wenn dies an der Beantwortung der Grundfrage dieses Essays nichts ändert.
Die Chancen, dass der Anspruch gelingt, stehen laut Elia Rediger sehr gut, wenn eine Geschichte gefunden und transportiert wird. Er nennt dies „die Romantik des Erzählens“. Der weiterführenden Diskussion um Haltung und Authentizität soll an dieser Stelle ausdrücklich aus dem Weg gegangen werden.
Zwischen Politik und finanziellem Überleben
Ein weiterer Punkt ist das Dilemma vieler Kulturschaffender zwischen eigener Haltung und finanzieller Abhängigkeit. Konkret: Soll unsere Instrumentalistin das Konzert spielen, obwohl sie mit den ethischen und politischen Haltungen des Hauptsponsors der Konzertreihe nicht einverstanden ist? In dieser Zwickmühle zu existieren, ist im Arbeitsleben, gerade von freien Ensembles, Alltag.
Wenn unsere Instrumentalistin nach dem Konzert ihre wohlverdienten Glückwünsche entgegennimmt, war sie also auf verschiedenen Ebenen politisch, oder zumindest in politische Aktivitäten verwickelt, selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst war.
Keine unpolitische Kunst
Wie die vorangegangene Argumentation zeigt, kann die Ausgangsfrage „Können KünstlerInnen und Kulturschaffende überhaupt unpolitisch sein und handeln?“ mit Nein beantwortet werden. Zwar ist eine unpolitische Haltung möglich. Durch äußere Einflüsse, Gegebenheiten und der Stellung innerhalb des Kultursystems scheint unpolitisches Handeln aber unmöglich zu sein. Wie bereits beschrieben ist die Frage des Bewusstseins darüber eine andere.
Im Kontext der Musik und Kultur ist politisches Agieren allerdings nicht zwingend mit einer Agenda oder Programm gleichzusetzen. Obwohl vielerorts der Eindruck entstehen könnte, ist die Klassik nicht per se unpolitisch. Vielmehr kann sie durch Auseinandersetzung mit Kontexten, Zuschauerstrukturen, Werk- und Künstlerauswahl politische Ideen und Logiken beinhalten. Hier lohnt sich die abschließend zusammenfassende Unterscheidung von politischer und aktivistischer Kunst.
Politische und aktivistische Kunst
Unter politischer Kunst lassen sich alle genannten, auch unbewussten Parameter fassen. Aktivismus hingegen ist in der Kunst als politischer Akt, auf die Gesellschaft zuzugehen und einzuwirken, zu verstehen. Das jeweils eigene Verständnis und das daraus resultierende Schaffen von Künstlern, Künstlerinnen und Kulturschaffenden bedingt die Einordnung zwischen einem politischen und aktivistischen Kunstverständnis.
Wenn Professor Martin Zierold den Wunsch äußert, dass sich Kulturschaffende nicht nur durch die Dynamik von Corona der Neubestimmung der Frage von Kunst und Kultur annehmen sollten, ist das nicht nur ein weitreichender gesellschaftlicher Auftrag. Es ist auch ein politischer Auftrag, den es lohnt in weiteren wissenschaftlichen Arbeiten fortlaufend zu beobachten.
Die Interviews zum Beitrag
Die Romantik des Erzählens
Der Schweizer Künstler Elia Rediger spricht darüber, wie man als Künstler*in auch immer politisch ist
Die Diskussion der Wichtigkeit
Der Professor für Kulturmanagement Martin Zierold spricht über die Kunst in der Corona-Zeit und darüber, wie diese Zeit die Kunst verändert