Der Mensch von Morgen, Interviews Umdenken

„Die Antwort ist klar: Keine staatlichen Hilfen ohne Gegenleistung.“

Kevin Kühnert - Foto: Nadine Stegemann

Interview mit Kevin Kühnert, Juso-Chef

Kevin Kühnert ist Juso-Chef und seit letztem Jahr auch stellvertretende Vorsitzender der SPD. Mit seinen 30 Jahren mischt er immer wieder die politischen Debatten rund um Gerechtigkeit in unserem Wirtschaftssystem auf. Er traut sich, das Thema Umverteilung laut anzusprechen. Ein Interview.

Herr Kühnert, die Pandemie hat uns mehr oder weniger alle doch ziemlich überrumpelt. Nach dem Lockdown Mitte März hieß es: Geschlossene Schulen und Kitas, Homeoffice, Kurzarbeit, stoppende Produktionen, fallende Aktienkurse. Kann man davon sprechen, dass die Wirtschaft hier in eine ungerechte Verliererposition geraten ist?


Kevin Kühnert: Ungerecht würde ja bedeuten, dass es eine schuldhafte Entwicklung dabei gibt – dass das jemand bewusst herbeigeführt hat. Nun ist die Pandemie eine Sondersituation, in der man schwerlich jemandem die Schuld zuweisen kann. Im Gegensatz zur Finanz- und Wirtschaftskrise vor etwa zehnJahren sind das jetzt weitestgehend äußere Umstände. Damit müssen wir alle umgehen, es gibt volkswirtschaftlich kein Drehbuch, für das, was jetzt im Moment passiert und kein historisches Vorbild.

Ich habe aber, wenn ich mir die Maßnahmen der Politik angucke, nicht den Eindruck, dass versucht wird, die Lasten, die zweifelsohne entstehen, einseitig abzuladen. Also die Summe der Programme, die jetzt aufgelegt wurden, adressieren sich an alle – an Unternehmen sowie an Privathaushalte, an Beschäftigte oder an soziale Träger. Also ich erkenne den Versuch der Politik, eine Art „Normalzustand“ wiederherzustellen. Und niemanden Corona-bedingt unter die Räder kommen zu lassen.

Hatten Sie sogar manchmal Mitleid mit den Boss*innen der vielen Firmen und Unternehmen in Deutschland, die plötzlich in diese Schieflage geraten sind? Diesmal wurde die Wirtschaftskrise ja nicht durch Spekulationen, Wirtschaft, Handel und Finanzen ausgelöst.


Mitleid ist eine schwierige politische Kategorie. Und wenn, dann empfinde ich das wahrscheinlich nicht in erster Linie gegenüber Leuten, die persönlich wirtschaftlich sehr gut abgesichert sind. Wenn es Raum für sowas wie Mitleid gibt, dann sicherlich gegenüber denjenigen, die jetzt ihren Job verloren haben oder in Kurzarbeit durch die Situation gelandet sind. Ich glaube, dass es in manchen Situationen eher Umut gegenüber manchen Chefetagen in der deutschen Wirtschaft gegeben hat.

Wenn wir bedenken: Als Adidas angekündigt hat Mietzahlungen für die Filialen auszusetzen. Als es Betriebe gab und immer noch gibt, wie BMW zum Beispiel, die ein Drittel der Beschäftigten in Kurzarbeit haben und zeitgleich kleinkariert darauf beharren, dass trotzdem noch die Dividenden für das abgelaufene Geschäftsjahr 2019 auszuzahlen sind. Da mache ich mir manchmal Sorgen darum, dass das doch sehr umsichtige Verhalten, was die Mehrheit an den Tag legt, dadurch doch ziemlich in den Dreck gezogen wird.

In der Finanzkrise haben wir davon gesprochen, dass Banken systemrelevant sind – jetzt sind es Supermarktmitarbeiter*innen und Pflegekräfte. Ergo: Systemrelevant ist für wirtschaftlich geprägte Gesellschaften immer das, was von der Krise bedroht wird?


Ich tue mich schwer mit dem Begriff „systemrelevant“. Das ist so billiger Applaus. Aber darum geht es ja gar nicht. Die Pflegekräfte mussten nicht durch gesellschaftliche Anerkennung lernen, dass sie einen wichtigen Job machen. Das wussten die schon vorher. Die Frage ist doch, was folgt politisch daraus. Wir haben jetzt zu oft in Debatten die Erfahrung gemacht, dass in einer krisenhaften Situation die eminente Bedeutung einer gesamten Berufsgruppe oder mehrerer Berufsgruppen hervorgehoben wurde und dass sich die Gesellschaft aber auch wieder vergesslich zeigt.

Aber warum kümmern wir uns vorher nicht darum, was für unsere Gesellschaft systemrelevant ist – sondern erst dann, wenn es kurz vor knapp ist?


Wir haben in unserer Gesellschaft eine Verknüpfung, die wir immer wieder feststellen können: Je schlechter die ökonomischen Bedingungen einer bestimmten Gruppe von Menschen sind, desto schwerer hat es diese Gruppe, sich und ihre Interessen artikulieren zu können. Das ist nachvollziehbar, dass wenn ich weniger Geld verdiene oder unter schwierigen Bedingungen arbeite, ist es häufig ein K.O.-Kriterium mich keiner Gewerkschaft anzuschließen, die für meine Interessensvertretung Verantwortung übernimmt. Dann habe ich einen schwierigeren Zugang zu Medien aller Art, in denen ich meine Position darlegen kann.

ch gehöre nicht zur gesellschaftlichen Belleetage – das heißt, mir fehlt häufig der Zugang zu Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern in der Politik oder in den Medien und so geraten diese Gruppen ein bisschen aus dem Blick. Und das Prinzip, auf das unsere sogenannte soziale Marktwirtschaft aufbaut, nämlich einen Interessensausgleich zwischen Arbeitnehmerseite und Arbeitgeberseite, gerät dort ins Rutschen. Das ist kein Zufall, dass wir es in der Pflege schon seit Jahren mit einer Situation zu tun haben, wo eigentlich ganz viel getan werden müsste. Das wissen wir auch nicht erst seit der Corona-Krise.

Bevor wir jetzt weiter über unser Wirtschaftssystem sprechen, müssen wir vielleicht ein paar Begriffe definieren, damit wir wissen, wovon wir sprechen. In zwei Sätzen: Was verstehen Sie unter Kapitalismus?


Kapitalismus bedeutet für mich, dass der Produktivitätszuwachs, der durch technischen Fortschritt und Effizienzsteigerung entsteht, nicht zu Gunsten der Beschäftigten und des Gemeinwohls geht, sondern zu Gunsten von Renditeinteressen oder Einzelnen eingesetzt wird.

Gilt das auch aktuell für Deutschland oder Europa?


Wir haben eine Art kastrierten Kapitalismus. Es ist kein Turbokapitalismus, wir sind hier nicht mehr im dunklen 19. Jahrhundert. Das ist dem Einsatz von Gewerkschaften, von Sozialdemokratie, auch von Sozialgesetzgebung zu verdanken. Aber natürlich sind diese Elemente im Wesentlichen immer noch feststellbar. Es gibt immer noch entfesselten Kapitalismus – auch bei uns. Zum Beispiel die Wohnungswirtschaft. Also es ist eine Mischform, die sich in vielen Bereichen unseres Zusammenlebens zeigt. Wir haben dem Kapitalismus Zugeständnisse abringen können über die Jahrzehnte, die aber auch immer wieder verteidigt werden müssen.

In zwei Sätzen: Was verstehen Sie unter Demokratie?


Demokratie ist gleichberechtigte Teilhabe aller – unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Einkommensverhältnissen. Also ohne Ansehen der Person.

Und glauben Sie, dass der Kapitalismus unsere demokratische Gesellschaft in Teilen bedroht?


Das ist nicht monokausal. Es wäre jetzt zu einfach zu sagen, dass da, wo unsere Demokratie bedroht ist, das liegt am Kapitalismus. Da spielen zu viele andere Faktoren mit rein: Menschenfeindlichkeit, Rechtsradikalismus und ähnliches – auch das bedroht Demokratie. Aber, wenn ich jetzt meine eigenen Definitionen, die ich gerade angewendet habe, nutze, muss man sagen, wir haben zum Glück längst kein Klassenwahlrecht mehr in Deutschland. Also wer mehr Geld hat, hat mehr Stimmwahlrecht bei einer Bundestagswahl.

Aber es gibt natürlich Umgehungsstraßen, die gebaut wurden. Lobbyismus kann in bestimmten Auswüchsen Teil dessen sein, wenn kapitalstarke Interessensgruppen, Unternehmensverbände oder ähnliches sich Zugang verschaffen zu politischen Entscheidungsträgern und ihnen dann auch Einlass gewährt wird. Das steht nirgends im Grundgesetzt, das liegt auch ein bisschen an der ethischen und moralischen Ausgestaltung politischer Ämter durch diejenigen, die Verantwortung innehaben: Mit wem reden sie, auf wen hören sie, nach wem richten sie ihre politischen Entscheidungen aus?

Ihre Position ist vielen bekannt. Nicht zuletzt als Sie im vergangenen Jahr mit der ZEIT darüber gesprochen haben, wie eine funktionierende Gesellschaft für Sie aussieht. Danach gab es viel Diskussionsstoff – unter anderem auch über mehr staatliche Eingriffe in die sich selbstregelnde Marktwirtschaft. Jetzt, ein Jahr später, sind wir an einem Punkt, wo sich viele Bürger*innen mehr staatliche Eingriffe wünschen – wenn es beispielsweise um das Gesundheitswesen, Beschaffung von medizinischer Schutzausrüstung oder die Entwicklung und Produktion von Impfstoffen geht. Bestätigt Sie das, dass über Ihre Thesen nun gesprochen wird, obwohl sie noch vor einem Jahr als der naive, junge Träumer der Jusos abgestempelt wurden?


Teils, teils. Mir geht es vor allem um ein Prinzip, was wir hoffentlich in der Corona-Zeit wieder zu schätzen lernen. Nämlich, dass Vorsorge besser ist als Nachsorge. In den Bereichen, wo es um elementare Grundbedürfnisse unserer Gesellschaft geht: Wohnen, eine intakte Umwelt, eine Versorgung mit Grundgütern wie Strom und Wasser, die Bereitstellung von Mobilität, die medizinische Versorgung. Und jetzt lernen wir in dieser Phase – und ja, dabei ist auch eine gewisse Genugtuung – dass wir das nicht nach strengen marktwirtschaftlichen Kriterien ausrichten können.

Wir haben vor einem Jahr anhand einer Bertelsmanns Studie eine große Debatte in der deutschen Politik gehabt, dass wir angeblich zu viele Bettenkapazitäten im deutschen Krankenhaussystem haben. Heute, wo wir zumindest medizinisch bislang ganz gut durch die Pandemie gekommen sind, wird Deutschland weltweit dafür gefeiert, dass aufgrund dieser Überkapazitäten uns Zustände wie in Italien, Spanien oder auch den USA erspart geblieben sind. Also hier scheint es einen Lerneffekt zu geben, dass Vorratung – auch was Masken oder medizinisches Gerät angeht – durchaus gut investiertes Geld sein kann.

Aber wo hört dieser Konsens über die elementaren Grundbedürfnisse, die der Staat zur Verfügung stellen muss, auf?

Ich mache mir keine Illusionen. Diese teilweise Einigkeit endet natürlich dort, wo wir in den Nice-To-Have-Bereich der Wirtschaft gehen. Wir haben zum Beispiel gerade die Diskussion um die Lufthansa, die in einer sehr zwiespältigen Situation ist. Die wissen, ohne staatliches Geld wird der Konzern nicht durch diese Krise kommen. Gleichzeitig darf man ihnen nicht in den Mund legen, dass sie nach einem Staatsunternehmen schreien. Genau das wollen sie nicht. Sie wollen Liquidität aber ohne staatliche Einflussnahme.

Und da sieht man den ideologischen Konflikt, um den es auch nach meinem Interview im letzten Jahr ging: Hat der Staat, hat die Gesellschaft sich auf das zu beschränken, was unbedingt notwendig ist? Oder hat das Gemeinwesen nicht auch mitzureden, dort wo es um Industrie, Produktion von Konsumgütern usw. geht? Mir ging es nie um volkseigene Betriebe. Wir sind hier nicht in der DDR. Aber es geht schon um Fragen, wie Mitarbeiterbeteiligung beispielweise.

Das heißt konkret?

Man sieht – nicht erst seit der Corona-Krise – dass immer wieder in krisenhaften Situationen Modelle wie Mitarbeiterbeteiligung diskutiert wurden. Aber nicht als Teil eines besseren Unternehmens, in dem es zwischen der Kapitalseite und der Beschäftigten ein Interessenbündnis gibt. Nein, es war immer notgedrungen. Die Beschäftigten sollten Lohnverzicht üben, um das Unternehmen mit Liquidität auszustatten. Dann hat man im Gegenzug zugestanden, dass es beispielweise Aktienpakete gibt und damit auch eine Mitarbeiterbeteiligung am Kapitalstock des Unternehmens.

Und das ist mein Interesse, diese Debatte umzudrehen und zu fragen, warum eigentlich nur in Notsituationen? Warum kann ein etabliertes Unternehmen, was auf Rückhalt von Gesellschaft und Belegschaft aufbaut, warum kann das nicht auch ein starkes Unternehmen sein, wenn es aus einer Situation der Stärke heraus für ein Beteiligungsmodell entscheidet?

Würden Sie sagen, dass Gesellschaften ein gemeinsames einschneidendes Erlebnis brauchen, damit wir Struktur überdenken und vielleicht auch mehr der Druck da ist, etwas zu ändern?

Das läuft immer in die Richtung: Krise als Chance. Ich bin da sehr vorsichtig. Denn das erscheint mir eine ziemlich zynische Herangehensweise an diese Gesamtsituation zu sein. Ziel muss immer sein, über demokratische Prozesse mit Mehrheiten, die organisiert werden, zu Veränderungen zu kommen. Nicht durch externe Umstände oder einer Form von Verelendungstheorie. Wir merken aber, dass etablierte Industrie- und Wirtschaftszweige sich häufig nur schwerlich dazu eignen, grundlegend anders aufgestellt zu werden.

Aber wie können diese etablierten Strukturen angepasst werden? Also Politik als Impulsgeber?

Viele Unternehmen, vor allem im Tech-Bereich, profitieren von massiver staatlicher Forschungsförderung. Da müssen wir sehr stark darüber reden, dann auch mit staatlicher Beteilung zu arbeiten. Nicht, um den Firmen zu sagen, wie sie am Ende ihre Produkte entwickeln sollen, sondern in einer Form von Payback.

Also wer durch staatliche Investitionen oder Förderungen sein Geschäftsmodell aufbauen kann, soll gerne auch etwas in einem gesunden Maß an die Gesellschaft zurückgeben. Wir sehen doch, dass SAP zum Beispiel oder auch Tec-Riesen in den USA ohne staatliche Investitionen niemals überhaupt in die Markposition gekommen wären, die sie heute haben. Das steht aber in keinem Verhältnis zu dem, was zurückkommt.

Ihre Forderung ist natürlich unangenehm für so manche Konzerne.

Aber auch auf der Unternehmerseite rufen einige danach. Es gibt die Initiative Verantwortungsunternehmertum, die ganz klar sagt: ‚Liebe Politik, schafft uns zwischen klassischen privatwirtschaftlichen Unternehmen und dem Sozialunternehmertum eine dritte Kategorie, bei der wir uns selber darauf verpflichten können, das erwirtschaftete Kapital nicht an Anteilseigner auszuschütten, sondern für soziale Zwecke für das Umfeld der Unternehmen, für die Quartiere, in denen wir groß geworden sind und wo unsere Beschäftigen leben, dass dafür in einem gewissen Maße einsetzten zu können.‘ Das signalisiert ja, dass da eine neue Generation heranwächst, die durchaus weiß, dass Unternehmen nicht als eine Art Solitär auf dem Markt unterwegs sind, sondern von Rahmbedingungen abhängig sind in ihrer Zukunftsfähigkeit.

Aber jetzt ganz akut – als Antwort auf die Rezession durch die Pandemie: Müssen wir jetzt nicht erstmal alles dafür tun, dass die Wirtschaft wieder voll hochfährt? Bei den immensen Verlusten, die eingefahren wurden. Immerhin hängen daran viele Arbeitsplätze Ihrer Wähler*innen.

Es geht nirgendwo, in keinem Wirtschaftszweig, auch wenn er objektiv noch so schädlich ist, darum Corona zu nutzen, um etwas kaputt gehen zu lassen. Das kann niemals das Mittel der Wahl in einer demokratischen Gesellschaft sein. Aber, was wir jetzt natürlich sehr wohl machen, ist die großen Investitionssummen, die für Konjunkturpakete verwendet werden, zu nutzen. Das ist zumindest unser Ziel, um deutlich mehr Rückenwind für übergeordnete gesellschaftliche Ziele zu geben.

Zum Beispiel den Klimaschutz. Jetzt werden wir große Milliardensummen bewegen und es wäre ja völlig unverantwortlich, dieses Geld nicht zu nutzen, um die Wirtschaft nicht auch entsprechend zu lenken. Also nicht einfach Geld ausschütten und zu sagen, macht damit, was ihr für richtig haltet. Sondern: Ihr bekommt das Geld ganz gezielt für eure Forschungs- und Entwicklungsarbeit, für die Umrüstung eurer Technologieparks, um auf Wasserstoff als Energietreiber umzusteigen.

Aber werden da nicht einige Industriezweige, die nicht wirklich ökologisch, aber wichtig für unsere Wirtschaft sind, benachteiligt?

Niemand hat das Ziel, zum Beispiel die Stahlproduktion in Deutschland platt zu machen. Die ist total wichtig für den Industriestandort. Aber die ist eben eine der größten CO2-Emittenten in unserer Gesellschaft. Also muss hier ein besonderes Interesse bestehen, die Produktionsprozesse umzustellen, um den ersten CO2-neutralen Stahl erzeugen zu können.

Wenn das Geld da ganz gezielt reinfließt, dann ist das die viel nachhaltigere Investition. Wir mobilisieren ja nicht Milliardenbeträge, um Jobs für drei Jahre zu sichern – um die geht’s am Ende – sondern wir wollen diese für die nächsten drei Jahrzehnte und darüber hinaus sicher machen.

Also heißt: Milliardenbeträge für langfristige Sicherung, aber nicht für kurzfristiges Ankurbeln der Wirtschaft?

Das ist der Grund, warum wir so differenzieren zwischen Autokaufprämien beispielsweise – wenn ich die ausgebe, dann verändere ich nichts an den wirtschaftlichen Strukturen. Das dient einzig und allein dem Abverkauf der Warenbestände der Unternehmen. Wohingegen eine Investition in die Produktionsabläufe oder in energieautarke Unternehmen viel nachhaltiger ist. Das ist eigentlich die beste Unternehmens- und Beschäftigungssicherung, die man betreiben kann. Deswegen ist die Antwort so klar: Keine staatlichen Hilfen ohne Gegenleistung.

Also nutzen wir jetzt doch die Krise als Chance, um unsere Wirtschaft und Gesellschaft in eine neue Richtung zu bewegen?

Aus der Not eine Tugend machen. Die Umstände hätten wir uns alle anders gewünscht. Das wäre immer schön, wenn es aus einer intrinsischen Motivation herauskommt. Aber wenn die Politik die Möglichkeit hat, Summen derart zu bewegen, dann muss sie die Gelegenheit nutzen, politisch mehrheitlich gewünschte Ziele zu erreichen.

Hört sich alles klar und einfach an – aber zur Demokratie gehören ja auch andere Meinungen. Auch die der Alleinerb*innen, Unternehmensfamilien und Wirtschaftsboss*innen. Also doch wieder nur Kompromisse?

Naja, die bestimmende Instanz ist die Politik und damit die demokratisch gewählten Vertreterinnen und Vertreter. Man sollte am Ende auch nicht zu Mitteln wie Enteignung greifen. Aber man kann natürlich Umwege finden. Wenn es kein Verantwortungsunternehmertum gibt – also wenn es Unternehmen gibt, die sich auch in Krisenzeiten Dividenden in Milliardenhöhe auszahlen lassen, die versuchen Betriebsvermögen in Stiftungen auszulagern oder die Besteuerung ihrer Gewinne auf kleine Karibikinseln verlagern – dann kann man vom Steuerecht Gebrauch machen.

Man kann Steuerschlupflöcher zumachen oder man kann Gebrauch von Vermögensbesteuerung machen. Und zwar solche, die nicht den Kleinaktionär bei BMW trifft, sondern die sich gezielt auf Leute mit Milliardenvermögen richtet. Wir reden über einen kleinen Anteil in unserer Gesellschaft, bei dem wir ein wachsendes Problem mit der Vermögensverteilung haben.

Wenn Sie jetzt ganz frei Ihre persönliche Meinung äußern dürfen: Wie sieht für Sie ein Kapitalismus aus, der unsere demokratische Gesellschaft nicht bedroht?

Ich will es jetzt nicht so depressiv beenden. Aber ein kapitalistisches Wirtschaften und eine ideale Form von Demokratie vertragen sich im Ergebnis nicht. Und mir geht es da nicht um Gleichmacherei, im Sinne von ‚alle sollen das gleiche Einkommen haben oder niemand soll Vermögenswert besitzen dürfen‘. Das hat für mich nichts mit einer gerechten Gesellschaft zu tun.

Aber eine Gesellschaft mit einer Wirtschaftsform, in der es weiterhin Unternehmen gibt, die nicht in erster Linie für den Erhalt des eigenen Betriebs und der Beschäftigten arbeiten, sondern nach Profitinteressen, wird es immer eine schwierige Wechselwirkung mit demokratischen Entscheidungsprozessen geben. Weil es hier immer um den Interessensausgleich mit Politik geht, um die Einflussnahme auf politische Entscheidungen. Das wird sich nicht final ausschließen lassen. Man kann den Grad von reinen demokratischen Entscheidungsprozessen deutlich verbessern, aber man wird in einer kapitalistischen Gesellschaft dies nie auf ein Optimum bringen können.

Und zum Abschluss: Wie nähern wir uns diesem Optimum nun an?

Der erste denkbare Schritt zu mehr Demokratie in unserem Wirtschaften ist: das Entziehen bestimmter Wirtschaftsbereiche von turbokapitalistischen Märkten. Da geht‘s um die Wohnungswirtschaft, da geht es ums Mobilitätswesen oder auch die Gesundheit. Und da hoffe ich, dass die Corona-Diskussionen uns einfach ein paar Lehren mitgegeben haben.