Umdenken

Jugendverdrossenheit ersetzt Politikverdrossenheit – Wahlrecht ab 16?

Wahlrecht ab 16? Die Jugend ist nicht politikverdrossen.

Die junge Generation ist lauter denn je. Die Fridays for Future Demos und die Corona-Pandemie befeuern die Debatte um die Senkung des Wahlalters. Die Debatte ist nicht neu. Die politische Ausdauer der Jugendlichen schon.

Es ist der 20. August 2018. Ein junges Mädchen setzt sich vor das schwedische Parlament mit einem Schild mit der Aufschrift: „Skolstrejk för klimatet“ – auf deutsch bedeutet das „Schulstreik für das Klima“. Eigentlich hat das Mädchen Schule. Doch die 15-Jährige will die nächsten drei Wochen jeden Tag herkommen und streiken. Bis zum Wahltag, an dem in Schweden ein neues Parlament gewählt wird. Am nächsten Tag setzt sich ein Mädchen dazu. Nach einer Woche erreicht der Protest der damals 15-Jährigen auch die deutschen Medien. Greta Thunberg hatte eine Bewegung in Gang gesetzt, an der sich Millionen Menschen weltweit beteiligt haben – und wurde zur Galionsfigur im Kampf gegen den Klimawandel.

Es erinnert ein bisschen an Tom Hanks Paraderolle: Als Forrest Gump beginnt er quer durch die USA zu laufen, erst alleine, dann zu zweit und später folgen dem Protagonisten des Oscar-Meisterwerks hunderte Laufbegeisterte. Alle mit der Frage: Wofür laufen Sie, Herr Gump? Im Gegensatz zu Forrest Gump hat Greta ein klares Ziel vor Augen: dass Politiker den Klimawandel endlich ernst nehmen.

Seitdem ist klar: Von einer politikverdrossenen Null-Bock-Generation kann hier nicht mehr die Rede sein. Tausende junge Menschen gingen jeden Freitag auf die Straße, um sich für ihre Zukunft einzusetzen. Auch die aktuellste Shell-Jugendstudie zeigt, dass politisches Engagement nicht mehr „uncool“ ist und in den letzten Jahren an Wichtigkeit gewonnen hat. Zwar vertraut die Mehrheit unserer Demokratie, doch glauben nur wenige, sich darin Gehör verschaffen zu können. Rund 70 Prozent stimmen der Aussage zu: „Politiker kümmern sich nicht darum, was Leute wie ich denken“. Ängste, die Umweltverschmutzung und den Klimawandel betreffen, haben im Vergleich zur letzten Befragung deutlich zugenommen.

„Und weil ihr Erwachsenen auf meine Zukunft scheißt, tue ich das auch“

Greta Thunberg sieht besonders die Erwachsenen in der Verantwortung. Schließlich muss ihre Generation noch sehr viel länger auf diesem Planeten leben. „Wir Kinder tun oft nicht das, was ihr uns sagt. Wir tun das, was ihr tut. Und weil ihr Erwachsenen auf meine Zukunft scheißt, tue ich das auch“, steht auf den handgeschriebenen Zetteln, die sie damals vor dem Parlament in Stockholm verteilt. Tatsächlich herrscht ein Ungleichgewicht der Generationen: Bei der letzten Bundestagswahl waren 61,7 Millionen Deutsche wahlberechtigt, davon mehr als jeder Dritte älter als 60 Jahre. Das Durchschnittsalter im Deutschen Bundestag liegt bei etwa 49 Jahren.

Kritisch wird es vor allem dann, wenn Entscheidungen in Bereichen getroffen werden, in denen die Jüngeren „zuhause“ sind. Die europäische Urheberrechtsreform hat tausende Menschen auf die Straße gebracht, die meisten der Demonstranten kaum älter als 30, einige sogar mit Eltern im Schlepptau. Sogenannte „Upload-Filter“ könnten Inhalte in sozialen Netzwerken auf eine Urheberrechtsverletzung prüfen und automatisch blockieren. Die „Generation YouTube“ sieht sich in ihrer künstlerischen Freiheit bedroht und spricht sogar von Zensur. Ihnen steht die Wut förmlich ins Gesicht geschrieben: Die Alten entscheiden über ihre Köpfe hinweg über etwas, das ihre Lebenswelt betrifft. Die Kernzielgruppe in sozialen Medien ist laut ARD/ZDF-Onlinestudie zwischen 14 und 29 Jahren alt und verbringt täglich etwa sechs Stunden im Internet.

Tausende Jugendliche, die auf den Straßen demonstrieren und eine Studie, die zeigt, dass die Gen Z durchaus politisiert ist – mal wieder wird die Debatte befeuert, Jugendlichen eine Stimme zu geben und das Wahlalter auf 16 herabzusetzen. Zur Erinnerung: Bisher ist die Teilnahme an Bundestagswahlen ab 18 Jahren möglich. Wählen ab 16 ist in einigen Bundesländern bereits auf Landes- und Kommunalebene möglich. In Artikel 20 im Grundgesetz steht: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Gehören Jugendliche etwa nicht dazu?

Eine Sache für Profis?

Kritikerinnen und Kritiker argumentieren gerne mit der Verstandesreife. Die könne bei Minderjährigen noch nicht vorausgesetzt werden. Jugendliche hätten noch kein politisches Verständnis, um sich eine eigene Meinung bilden zu können. Oder, um es mit den Worten von FDP-Chef Christian Lindner zu sagen: „Von Kindern und Jugendlichen kann man nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen. Das ist eine Sache für Profis“. Wache ich also an meinem 18. Geburtstag auf und bin ein Profi? Jugendliche dürfen immerhin mit 16 in eine Partei eintreten, ein Testament erstellen lassen und ihre Bereitschaft zur Organspende erklären – ab 14 Jahren können sie strafrechtlich verfolgt werden.

Der FAZ-Journalist Paul Fabel führt eine Metapher an, die es nicht besser auf den Punkt bringen könnte: Junge, politikinteressierte Menschen müssen sich wie vor dem Türsteher eines exklusiven Nachtclubs fühlen. Sobald sie 18 sind, dürfen sie endlich eintreten und mitreden. Etwa 1,5 Millionen müssen draußen bleiben, denn so viele Menschen wären zusätzlich wahlberechtigt, würde man das Wahlalter um zwei Jahre senken.

Sind Jugendliche wirklich politikverdrossen oder ist unsere Demokratie zu jugendverdrossen? Lindners Aussage stieß auf viel Kritik. Schnell reagierte er mit einem Gegenvorschlag: pro Schuljahr einen Klimatag an Schulen einzuführen, wo das Thema Klimaschutz in aller Fülle beleuchtet werden kann. Das ist sicherlich nicht die Antwort auf die Frage, warum junge Menschen nicht wählen dürfen. Aber zumindest ein Ansatz, oder vielmehr ein Ort, an dem Politik mehr Raum einnehmen sollte, um die viel diskutierte Entscheidungsreife zu sichern: die Schule.

Die Wahl zum Klassen- oder Schulsprecher oder einfach darüber, wohin die nächste Exkursion gehen soll. Es gibt viele Möglichkeiten, bereits in der Schule Demokratie zu erleben. Viele Projekte befassen sich mit der Demokratiebildung an Schulen, zum Beispiel die Werkstatt der Deutschen Schulakademie mit dem Titel „Demokratie lernen – Partizipation gemeinsam gestalten“. Zwölf Hamburger Schulen haben vergangenes Jahr Konzepte entwickelt, um Jugendliche im Schulalltag mehr einzubeziehen. Die Schülerinnen und Schüler sollen Debatten führen und eigene Positionen vertreten, um Demokratie selbst zu erleben. Die Partizipation ging sogar so weit, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über Unterrichtsinhalte und den Namen der Schule abstimmen durften.

Auch die Bochumer Schiller-Schule gilt als Vorreiter, wenn es darum geht, den Schulalltag demokratischer zu gestalten: Das Gymnasium gewann mit seinem Schülerparlament den Deutschen Schulpreis 2019. Das Parlament setzt sich aus Fraktionen der verschiedenen Stufen zusammen, die gemeinsam mit ihren Klassen Anträge formulieren. Die Lehrerinnen und Lehrer dürfen an den wöchentlichen Sitzungen zwar teilnehmen, haben selbst jedoch keine Funktion. Die Message ist klar: Demokratische Werte sollen nicht nur über den Unterricht an die Jugendlichen herangetragen werden, sondern vielmehr über praktische Erfahrungen.

Der Weg in die Rentnerdemokratie

Dass die Schule zum Wahllokal wird, ist nicht ungewöhnlich. Neun Tage vor der Wahl für die Erwachsenen, führt der Bundesjugendring Wahlsimulationen für Kinder und Jugendliche durch. Die U16- und U-18-Wahlen sollen jungen Menschen deutlich machen, wie so eine Wahl eigentlich funktioniert. Die jungen Wählerinnen und Wähler sollen dazu ermutigt werden, sich mit Parteiprogrammen auseinanderzusetzen und das ein oder andere Wahlversprechen kritisch zu hinterfragen. Mit den Wahlsimulationen setzt sich die Initiative aktiv für die Senkung des Wahlalters ein. Teilnehmen können alle, die einen Stift in der Hand halten können, heißt es von der Initiative – eine Altersbeschränkung gibt es dabei nicht.

Dass Projekte wie diese so wichtig sind, zeigen auch die Ergebnisse der Shell-Studie: Etwa ein Drittel der Jugendlichen ist empfänglich für populistische Aussagen. Jugendministerin Franziska Giffey (SPD) betonte: „Das Plädoyer ist aus unserer Sicht ganz klar: Wir brauchen mehr politische Bildung in den Schulen.“

Der Sozialforscher Klaus Hurrelmann ist Co-Autor der Shell-Studie und auch er glaubt, dass schon Kinder in der Lage sind, sich ein politisches Urteil zu bilden. Er setzt sich seit Jahren für das Wahlrecht ab 12 Jahren ein, bisher ohne Erfolg. Als Kompromiss sieht Hurrelmann das Wahlrecht ab 16 an. Der Jugendforscher geht noch weiter und fordert eine Jugendquote analog zur Frauenquote in Parteien, damit sich die ältere Generation auch mit den Problemen der Jüngeren beschäftigt. Es fehlten ganze Generationen in den Parteien – eine verpflichtende Quote führe dazu, dass Parteien aktiv nach jungen Menschen suchen. Schon der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog warnte 2008, dass wir auf dem Weg in eine Rentnerdemokratie sind: „Die Älteren werden immer mehr und alle Parteien nehmen überproportional Rücksicht auf sie“, sagte Herzog.

Warum also ändert sich nichts, wo doch Millionen junge Menschen ihre Plakate in die Kameras halten und zeigen: Wir wollen mitreden. Mit Parolen wie „Wir sind jung und brauchen die Welt“, „Ihr habt unsere Zukunft in euren Händen“ oder „Hopp, hopp, hopp Kohlestopp“. Sicherlich kann man über die Ansichten der jungen Menschen streiten, doch Politikverdrossenheit sieht eindeutig anders aus. Ist es also die Trägheit, die in uns Menschen steckt? Oder gar die Angst vor einer Veränderung? („Haben wir einmal gemacht, machen wir immer“). Oder, wie der britische Historiker Henry Thomas Buckle festgestellt hat: „Der größte Feind des Fortschritts ist nicht der Irrtum, sondern die Trägheit“. Vielleicht irren wir uns ja. Vielleicht wollen die 1,5 Millionen 16- und 17-Jährigen im Herbst 2021 gar kein Kreuzchen machen. Vielleicht aber ja doch.

Grünen profitieren von der Senkung des Wahlalters

Von den Stimmen der neuen Wählerinnen und Wähler würde besonders eine Partei profitieren. Denn die Senkung des Wahlalters spielt nicht etwa CDU oder SPD in die Hände, sondern den Grünen – zumindest, wenn man nach den Ergebnissen der Europawahl 2019 geht. In der Altersgruppe zwischen 18 und 24 konnten die Grünen über 30 Prozent holen, CDU und SPD waren bei den jungen Wählerinnen und Wählern weniger erfolgreich und holten jeweils 12 und 8 Prozent. Und auch eine repräsentative Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Wahlforschung zeigt: Hätten die 16- und 17-Jährigen bei der vergangenen Bundestagswahl abstimmen dürfen, wären die Grünen auch in dieser Altersgruppe die stärkste Partei. Also sprechen wir hier von Trägheit? Wohl eher politisches Kalkül.

Die Grünen setzen sich schon lange für die Senkung des Wahlalters ein. Erst kürzlich nahm Parteivorsitzender Robert Habeck die Corona-Krise zum Anlass, um die Debatte wieder ins Rollen zu bringen. Jugendliche hätten sich vorbildlich an die Corona-Maßnahmen gehalten, um die Älteren zu schützen – dieses Verhalten zeige, dass junge Menschen durchaus über politische Reife verfügen. Die Idee, das Wahlalter als eine Art Belohnung zu senken, sei mal dahingestellt. Eine Annäherung auf Augenhöhe sieht anders aus. Trotzdem gab es viele Befürworterinnen und Befürworter, nicht nur aus den eigenen Reihen. Die Fridays for Future Bewegung scheint einigen Kritikerinnen und Kritikern die Augen geöffnet zu haben.

Durchhaltevermögen beweisen

Was ist also passiert seit dem 20. August 2018? Greta Thunberg sitzt nicht mehr vorm Parlament. Das muss sie auch nicht. Ihre Forderung nach mehr Kilmaschutz wurde weltweit auf die politische Agenda gesetzt. Sie hat jungen Menschen eine Stimme gegeben – in Form von Parolen auf den Freitagdemos und in sozialen Netzwerken. Hierzulande hat die Bundesregierung ein Klimakabinett ins Leben gerufen, das die Einhaltung der Klimaziele bis 2030 gewährleisten soll. Doch sie ist noch lange nicht fertig. Die mittlerweile 17-Jährige beweist Durchhaltevermögen. Und genau das müssen auch die jungen politikinteressierten Menschen hierzulande beweisen. Die Einführung des Frauenwahlrechts 1918 war auch das Ergebnis eines langen Kampfes. Fragt sich nur, ob die junge Generation da draußen noch lauter wird. Denn einen offensichtlicheren Hilferuf gibt es kaum: Hört, was wir zu sagen haben.

Es gibt Menschen, die sich aktiv für eine Reform unserer Demokratie einsetzen (und es auch können). Christian Brüninghoff vom Landesjugendring NRW fordert, dass Jugendliche mehr an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Alexander Trennheuser vom Verein „Mehr Demokratie“ strebt mehr Bürgerbeteiligung auf allen Ebenen unserer Gesellschaft an. Beide wollen unserer Demokratie einen neuen Anstrich verpassen und mehr Menschen beteiligen.

Die Interviews zum Beitrag

Christian Brüninghoff - Foto: Landesjugendring NRW

„Jugendliche waren immer politisch“

Der Referent für kommunale Jugendpolitik Christian Brüninghoff spricht über das politische Interesse von Jugendlichen

Alexander Trennheuser - Foto: Lucas Rosenthal

„Die Bürgerinnen und Bürger wollen mehr“

Der Bundesvorsitzende von „Mehr Demokratie“ Alexander Trennheuser spricht über mehr Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie