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Irrtum 5: Alle Algorithmen arbeiten immer neutral und unabhängig von menschlichen Wertesystemen

Algorithmen begegnen uns nahezu überall. Sei es im Navigationsgerät des Autos, wo sie für uns den kürzesten Weg suchen. Beim Texteschreiben am Computer, wo sie unsere Rechtschreibfehler korrigieren. Oder beim Streamingdienst, wo unter der „Top-Auswahl“ für uns interessante Filme vorgeschlagen werden. Umso erstaunlicher ist es, dass kaum einem Deutschen bewusst ist, wie diese Systeme arbeiten. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung von Mai 2018 hat ergeben, dass zwar 72 Prozent der Befragten den Begriff bereits gehört haben, aber nur jeder zehnte weiß recht genau, wie Algorithmen funktionieren. Über die Hälfte gaben hingegen an, kaum etwas über sie zu wissen. An dieser Stelle also eine Erklärung: Als Algorithmen bezeichnet man Systeme mit einer klar definierten Vorgehensweise, die Schritt für Schritt eine Lösung finden. So definiert es das Fachportal für Softwareentwicklung Dev Insider. Dabei geht es nicht darum, ein spezifisches Problem zu lösen, sondern mit einem allgemeineren Blick heranzugehen. Der Algorithmus hinter Google-Suchanfragen ist beispielsweise nicht speziell für „Günstiges Hotel Traumstrand Karibik“ geschrieben, sondern generell zur Ordnung von Suchergebnissen nach Kompetenz, Verlinkungsstruktur und Relevanz. Man könnte einen Algorithmus auch mit einem Kochrezept vergleichen. Es erklärt einem nicht, wie man am geschicktesten Tomaten schneidet, ohne dass der innere weiche Teil herausfällt. Oder wie man am besten Eier trennt, ohne dass sich das Eigelb mit dem Eiweiß vermischt. Sondern ein Kochrezept gibt eine Schritt-für-Schritt-Anweisung, wie man Zutaten in einer bestimmten Menge zu einem hoffentlich leckeren Essen zubereitet.

Auch ohne das Wissen über die Arbeitsweise dieser Systeme sagen knapp ein Viertel der erwähnten Bertelsmann-Befragten, dass der Einfluss von Algorithmen in ihrem Alltag stark oder sehr stark sei. Jeder zweite hingegen empfindet diesen Einfluss als weniger oder gar nicht stark. Allerdings wussten auch nur bei drei von 16 genannten Anwendungsfeldern knapp über die Hälfte der Befragten, dass dort Algorithmen Entscheidungen treffen und Empfehlungen geben. Auch die Meinung über Vor- und Nachteile durch Algorithmen sind noch sehr unterschiedlich. Während knapp über ein Drittel mehr Risiken und knapp unter ein Fünftel mehr Chancen durch Entscheidungen auf Grundlage von Algorithmen sehen, sind 46 Prozent noch unentschlossen.

Algorithmen dürfen wegen ihrer mathematischen Grundlage nicht unbedingt als neutral eingeschätzt werden.

Wieso geben wir Systemen, von denen fast die Mehrheit noch nicht überzeugt ist, so viel Macht und Einfluss auf unser Leben? Schließlich wählen sie mögliche Partner auf Singlebörsen für uns aus oder bewerten ob jemand kreditwürdig ist. Außerdem passen sie die angezeigte Werbung im Internet und Nachrichten auf Informationsportalen an unser vorheriges Nutzungsverhalten an. Täglich überlassen wir also Algorithmen bewusst und unbewusst Milliarden Entscheidungen. Und weil sie so einen großen Einfluss auf unser Leben haben, müssen Algorithmen auch in die digitale Ethik mit einbezogen werden. Ein wichtiger Aspekt dabei ist zu verstehen, dass Algorithmen wegen ihrer mathematischen Grundlage nicht unbedingt als neutral eingeschätzt werden dürfen. Ein Projekt der Bertelsmann Stiftung mit dem Titel Algorithmenethik beschäftigt sich genau mit diesem Problem, und sie haben auch einen Begriff dafür geprägt: Mathwashing.

Die Experten weisen darauf hin, dass algorithmische Systeme von Menschen entwickelt werden. Somit trifft ein Mensch die Entscheidung, welche Daten genutzt und wie sie gewertet werden. Außerdem legt er den Zweck des Systems fest und welche Folgen die Ergebnisse für Menschen haben sollen. Der zweite wichtige Aspekt ist, dass Daten von sich aus nicht objektiv sind. Meistens sind sie chaotisch oder unvollständig, einseitig oder sogar gefälscht und beeinflusst. Die Experten machen es an einem Beispiel verständlich: Nehmen wir ein selbstlernendes System und geben ihm Daten über die heutige Gehaltsverteilung in der Bundesrepublik. Daraus würde der Algorithmus schließen, dass Frauen weniger verdienen als Männer. Dieser Zustand würde zur Basis ihrer Entscheidung und somit auch zum Teil ihrer Ergebnisse werden. Ungleichheit könnte durch unüberlegte, oder besser, nicht verantwortungsvolle Entwicklung und Nutzung von Algorithmen gefestigt und verstärkt werden. Die Experten von Algorithmenethik fordern deshalb mehr Transparenz und Erklärbarkeit bei Algorithmen. Außerdem sollen Algorithmen an Gesetzen und Grundrechten gemessen werden. Zudem fordern sie uns alle auf, kritischer zu denken und es nicht als gegeben hinzunehmen, wenn Algorithmen Entscheidungen treffen.

Auch bei Algorithmen ist die Frage der Verantwortung nicht geklärt.

Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass Menschen die Algorithmen nach einem bestimmten Wertesystem programmieren. Wenn zum Beispiel der Algorithmus einer Partnerbörse uns unseren Traumpartner vorschlägt, muss jemand zuvor definiert haben, was genau einen Traumpartner ausmacht und anhand welcher Übereinstimmungen mit den eigenen Profilangaben dieser ermittelt werden soll. Neutral ist das nicht. Sondern es entspricht dem benutzen Wertesystem des Entwicklers. Besonders, wenn solche Werte unrechtliche oder sogar schon diktatorische Züge aufweisen und beispielsweise im nationalen Zusammenhang eingesetzt werden, wird es mehr als problematisch. Welches Maß an Kontrolle und Unterdrückung ist in so einem Zusammenhang mit Algorithmen herstellbar? Und wer ist in der Verantwortung, einen solchen Missbrauch zu überprüfen? Die Regierung, in diesem Fall also der Diktator selbst? Wohl eher nicht. Doch auch alltäglichere Beispiele, wie wenn über unsere Kreditwürdigkeit entschieden wird, zeigen, wie abhängig die Ergebnisse vom jeweiligen Wertesystem des Algorithmus sind. Diese Entscheidungsmacht erscheint zudem undurchsichtig, da auch hier die Frage der Verantwortung nicht geklärt ist. Im Gegenteil sogar: Unternehmen und Verantwortliche nutzen Algorithmen als Alibi für ihre Entscheidungen.

Doch auch wenn Algorithmen nie ganz neutral sind, ob wir ihnen nun positiv oder negativ gegenübergestellt sind, ist unsere Entscheidung. Der Philosoph und Informationswissenschaftler Rafael Capurro hat 2015 in einem Interview mit Spektrum bereits gesagt, dass weder Smartphones noch der Maschine-zu-Maschine-Kommunikation gute oder schlechte Eigenschaften anhaften. Diese entstehen immer im sozialen und historischen Kontext. Überträgt man diese Aussage nun auf Algorithmen heißt es, dass wir Menschen bestimmen, für welche guten oder schlechten Zwecke wir Algorithmen einsetzen und ob ihre Ergebnisse uns helfen oder schaden. Wir, die Gesellschaft ist es, die ethische Richtlinien für den Gebrauch von Algorithmen entwickeln muss. Und das führt uns zum Fazit.