Wie bereits erklärt wurde, behandelt Ethik das Verhalten von Menschen. Dabei ist es wichtig, nicht den Bezug zum Wesentlichen zu verlieren. Wer ist betroffen und wer sollte aktiv werden? Außerdem sollte nicht von vorne herein der Kopf in den Sand gesteckt werden. Denn so viele neue Technologien und Entwicklungen es in den vergangenen Jahrzehnten auch gegeben hat: Wir stehen nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit vor dem „Problem“, dass Maschinen zur Übernahme von bisher menschlichen Aufgaben entwickelt wurden. Denken wir nur an die Industrialisierung. Als der Engländer James Hargreaves Mitte des 18. Jahrhunderts seine „Spinning Jenny“, die erste industrielle Spinnmaschine, erfunden hat, haben sicherlich auch viele Arbeiter die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Mit dieser Erfindung wurde maßgeblich eine technische und gesellschaftliche Revolution eingeleitet. Und heute ist es das gleiche – nur doch irgendwie anders.
Jeder ist betroffen.
Eine große Gemeinsamkeit der beiden angesprochenen Revolutionen ist, dass sie nicht nur die Entwickler und Unternehmer der neuen Erfindungen betreffen. Im Gegenteil. Jeder ist betroffen. Nicht nur Informatiker, Programmierer und Unternehmenschefs, sondern auch der Familienvater, der jeden Morgen ins Büro fährt und dort am Computer arbeitet. Und auch die Tochter, die jeden Tag mehrere Stunden vor dem Bildschirm sitzt, durch ihre Instagram-Timeline scrollt und sich mit ihren Freunden durch Smileys, GIFs und Memes unterhält. Und auch die Mutter, die auf dem Nachhauseweg von ihrem Halbtagsjob in der Bahn online nach Kochrezepten sucht. Und sogar der kleine Sohn, der gerade mal zwei Wörter sagen, aber schon ein Handy entsperren und damit Fotos machen kann.
Wenn wir nun davon ausgehen, dass digitale Ethik uns alle betrifft, liegt die Frage nahe: Wieso reden wir so wenig darüber? Wissen wir als Nutzer von technischen Geräten und des Internets überhaupt genug, um uns an einer Debatte über die digitale Ethik vernünftig beteiligen zu können? Auch hier ist ein Vergleich zu einer längst vergangenen Zeit möglich: die Epoche der Aufklärung. Ab dem 18. Jahrhundert ging es vor allem darum, die Vernunft als universelle Urteilsinstanz zu etablieren und in der Gesellschaft Gleichberechtigung, Bildung und allgemeine Handlungsfreiheit zu schaffen. Eine ähnliche Bewegung ist in der heutigen Zeit erneut notwendig. Dabei sollte der Begriff „Aufklärung“ allerdings viel wörtlicher genommen werden.
Rund 80 Prozent der deutschen Bevölkerung sind der Meinung, dass das heutige Bildungssystem zu wenig im Bereich digitaler Kompetenzen vermittelt.
Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag von eco
Vor 20 Jahren wurde das Internet kommerzialisiert und nach und nach für die breite Masse zugänglich gemacht. Seitdem hat das World Wide Web mit allen weiteren Entwicklungen Einfluss auf unser gesellschaftliches sowie politisches Handeln und Denken genommen – also auch auf Bereiche wie Gleichberechtigung, Bildung und allgemeine Handlungsfreiheit. So schnell diese Entwicklungen auch gekommen sind, so wenig Zeit hatten wir als Gesellschaft, uns um mögliche Folgen und Auswirkungen Gedanken zu machen.
Doch wer ist zuständig für eine solche Aufklärung? Rund 80 Prozent der deutschen Bevölkerung sind der Meinung, dass das heutige Bildungssystem zu wenig im Bereich digitaler Kompetenzen vermittelt. Das haben Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Civey ergeben, die sie im Auftrag von eco, dem Verband der Internetwirtschaft, durchgeführt haben. Danach sehen rund 40 Prozent der deutschen Bevölkerung die Verantwortung für ethische Regeln für den Einsatz von digitalen Technologien bei der Politik. Über ein Drittel sieht eine geteilte Verantwortung bei Politik, Wissenschaft, Gesellschaft und Unternehmen.
„Viele Menschen und Unternehmen, die sich vorher nicht um den Datenschutz gekümmert haben, haben sich mit dem Thema auseinandergesetzt.“
Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber
Betrachten wir zuerst die Politik. Auch heute schon ist das Internet kein rechtsfreier Raum. Vor allem auf EU-Ebene gibt es bereits strikte Gesetze. So zum Beispiel die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Nach ihrer Einführung am 25. Mai 2018 gab es eine wahre Mailflut in alle Online-Postfächer, die über die Neuerung in Sachen Datenschutz informiert und um Erlaubnis zur Datenverarbeitung gebeten haben. Genau ein Jahr später hat der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber trotz lautgewordenen Kritikpunkten ein weitgehend positives Feedback gezogen. In seiner Pressemitteilung heißt es: „Viele Menschen und Unternehmen, die sich vorher nicht um den Datenschutz gekümmert haben, haben sich mit dem Thema auseinandergesetzt. Selbst in Ländern wie den USA und Japan oder Brasilien und Indien entfaltet die DSGVO Wirkung und wird als Vorbild und Anlehnungspunkt für eigene nationale Datenschutzgesetzgebung verwendet.“ Vor allem der letzte Satz bringt das eigentliche Problem auf den Punkt: So schön und zielführend die DSGVO und ähnliche Bemühungen wie die Datenethikkommission der Bundesregierung auch sein mögen, das Internet ist ein globales Netzwerk. Zurecht fragt man sich: Wieso gibt es bisher „nur“ nationale oder beziehungsweise EU-einheitliche Regelungen?
Schlagen wir den Bogen zurück zur Aufklärung. Ist ein Vorwurf gegenüber der Politik gerechtfertigt, nicht genügend über vorgehende Änderungen und den aktuellen Stand der Dinge zu informieren? Jein. Zum Beispiel findet ein Bürger, der sich zufällig auf die Internetseite des Bundesdatenschutzbeauftragen verirrt, jede Menge Mitteilungen über geplante und laufende Einrichtungen von Datenschutz-Institutionen, Erläuterungen zu den Gesetzestexten und zum Herunterladen bereitstehende Broschüren über die Rechte der Bürger. Auch die Medien haben ausgiebig über die DSGVO berichtet. Informationen sind also da. Agieren wir Bürger dann zu passiv? Auch das kann man nur mit jein beantworten. Bleiben wir beim Beispiel DSGVO und der zuvor bereits erwähnten Pressemitteilung. Laut dieser habe den Bundesdatenschutzbeauftragen allein zwischen dem 25.Mai 2018 und dem 30. April 2019 fast 15.000 Beschwerden und Meldungen von Datenschutzverstößen erreicht. Das sei eine Verdreifachung verglichen mit dem Zeitraum 2017. Und was ist mit den Unternehmen? Hier liegt vor allem ein globaler Blick nahe, da Internet-Riesen wie Amazon, Facebook und Google ihren Sitz in den USA haben.
Internetunternehmen fordern aktivere Rolle für Regierung und Regulierungsbehörden
Ende März dieses Jahres veröffentlicht Facebook-Gründer Mark Zuckerberg in der Washington Post einen Beitrag. Er spricht sich dort für eine aktivere Rolle für Regierung und Regulierungsbehörden aus. Außerdem fordert er eine Aktualisierung von Regeln für das Internet. Als vier Kernpunkte nennt er dabei schädliche Inhalte, Wahlintegrität, Datenschutz und Datenübertragbarkeit. Nur etwa einen Monat später legt der Apple-CEO nach. In einem Interview mit dem Time-Magazine fordert Tim Cook mehr staatliche Regulierung der Technologiebranche, um die Privatsphäre zu schützen. Es ist also keineswegs so, als würde sich keiner der Internet-Riesen äußern. Doch von leeren Forderungen hin zu legislativen Richtlinien ist es ein weiter Weg, über den die Öffentlichkeit genügend informiert werden muss. Und „genügend“ ist in diesem Satz ein Schlagwort.
Auf den ersten Blick sieht es nämlich so aus, als seien Politik, Unternehmen sowie Gesellschaft dabei, ihr Möglichstes zu tun. Doch eine Umfrage aus dem Jahr 2018 zeigt, dass nur jeder Fünfte in Deutschland der Meinung ist, dass unsere Regierung die Herausforderungen der Digitalisierung meistern wird und Vertrauen in die für die Digitalisierung verantwortlichen Unternehmen hat. Lediglich 12 Prozent der Befragten hat Vertrauen in die für die Digitalisierung verantwortlichen Politiker. Für diese Umfrage hat das Marktforschungsinstitut EARSandEYES im Auftrag der International School of Management im März 2018 1.000 in Deutschland lebende Personen im Alter von 16 bis 69 Jahren befragt. Ein ähnliches Bild entsteht, wenn man im Netz nach aktueller Berichterstattung über die DSGVO sucht, um zu diesem Beispiel zurückzukehren. Dann springen einem Texte wie „Ein Jahr nach dem Weltuntergang“ entgegen, der vom Spiegel am 7. Mai veröffentlicht wurde. Weiter heißt es dort: „Die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) führte zu Verwirrung und Verunsicherung – und viele Bürger verstehen sie bis heute nicht.“ Auch das Handelsblatt zieht mit. Am 21. Mai schrieb es: „Verwirrung und Unsicherheit – ein Jahr DSGVO“. Ein Artikel im Magazin Wirtschaftsinformatik & Management von Anfang dieses Jahres vergleicht die Berichterstattung über die DSGVO vor und nach ihrer Einführung. Das Ergebnis: Vor dem Stichtag wurde durch Medienberichte Angst verbreitet, doch etwa ein halbes Jahr nach der Einführung ist diese weniger geworden, obwohl dennoch Kritik laut wurde.
Diese Argumentation soll zeigen, dass das Empfinden von Aufklärung subjektiv ist. Man kann der Bundesregierung nicht vorwerfen, seine Bürger nicht zu informieren. Und den Medien kann man nicht vorwerfen, nicht zu berichten. Und auch die Unternehmen stehen nicht still in einer Ecke. Erlaubt ist aber die Frage, ob diese Informationsweitergabe – oder Aufklärung – verständlich und einfach zugänglich für die Bevölkerung ist. Und ob die Medien mit ihrer Konzentration auf Kritikpunkte und ihrer Wortwahl zu einer konstruktiven Debatte verhelfen. Und ob Unternehmen mit ihrer Entscheidungsfindung sowie Institutionen wie das Institut für Digitale Ethik mit seinen öffentlichen Informationsveranstaltungen bekannt genug sind. Gleichzeitig muss man auch an die Gesellschaft appellieren, da Aufklärung auch immer ein gewisses Maß an Eigeninitiative benötigt. So war es im 18. Jahrhundert und so ist es auch heute noch. Denn jeder ist betroffen und somit auch beteiligt. Jeder hat die Freiheit, sich im Internet zu informieren – und zu äußern. Und das führt uns zum Irrtum 3: Freie Meinungsäußerung im Internet hat keine Grenzen.