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Irrtum 3: Freie Meinungsäußerung im Internet hat keine Grenzen

Ein zu Recht hohes Gut in Deutschland ist der Artikel 5 des Deutschen Grundgesetzes (GG): „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.“ Kurz gesagt: Freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit. Ebenfalls niedergeschrieben im Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Doch als diese 1948 und ein Jahr später das GG verabschiedet wurde, war von sozialen Medien oder Privatsphäre im Internet noch keine Rede. Doch spätestens in den vergangenen zehn Jahren hat sich das Internet jedoch zur größten Veränderung des Informationswesens seit der Erfindung des Buchdrucks entwickelt. Und mit einer am 24. Januar 2013 veröffentlichten Mitteilung zu einer Schadensersatzklage hat der Bundesgerichtshof einen Internetanschluss zur Lebensgrundlage jeder Privatperson anerkannt. Wie sieht eine freie Meinungsäußerung im Zeitalter des Internets aus und hilft sie uns, eine soziale Gesellschaft, hier im umgangssprachlichen Sinne synonym verwendet mit hilfsbereit, mitfühlend und friedlich miteinander umgehend, zu sein?

Marc Zuckerburg hat Facebook aufgebaut, um jedem eine Stimme zu geben. Das hat er zumindest in einem Interview mit ABC News im April diesen Jahres erklärt. Rund 2,7 Milliarden Menschen nutzen heute Facebook, den integrierten Messenger, den mittlerweile zum Konzern gehörenden Nachrichtendienst WhatsApp oder das ebenfalls aufgekaufte soziale Netzwerk Instagram. Das sind also rund 2,7 Milliarden Stimmen bei rund 7,7 Milliarden Menschen auf der Welt. Doch genau wie in der „analogen“ Welt sprechen diese Stimmen nicht immer mit freundlichen Zungen. Das Ergebnis sind Probleme wie beispielsweise Hasskommentare und (anonyme) Beleidigungen.

Netzwerkdurchsetzungsgesetz soll „Hasskriminalität, strafbare Falschnachrichten und andere strafbare Inhalte auf den Plattformen sozialer Netzwerke wirksamer“ bekämpfen.

Bundesjustizministerium

Dank des Rechts auf freie Meinungsäußerung darf jeder im Internet sagen, was er möchte. Auch, wenn er damit den allgemeinen Ansichten der gesellschaftlichen Mehrheit widerspricht. Und das ist gut so. Eine Grenze, die allerdings gezogen und kontrolliert werden muss, sind strafrechtliche Verstöße, wie zum Beispiel Beleidigungen, üble Nachrede oder Verleumdung. In den vergangenen Jahren, als Immigrationspolitik gefühlt alle anderen politischen Themen an den Rand der Wahrnehmung gedrängt hat, war besonders die sogenannte „Volksverhetzung“ in aller Munde. Grundlage für einen solchen Straftatbestand sind Aussagen und Kommentare, die gegen eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe gerichtet sind und zu Hass oder Gewalt auffordern. Obwohl das Strafrecht seit 1871in seiner ursprünglichen Weise bekannt ist, konnte man das Gefühl bekommen, das Internet sei in diesem Zusammenhang lange ein strafrechtlich freier Raum gewesen.

Erst am 30. Juni 2017 hat der Bundestag ein Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken beschlossen. Knapp drei Monate später ist dieses Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) in Kraft getreten. Durch diese Änderung sollen „Hasskriminalität, strafbare Falschnachrichten und andere strafbare Inhalte auf den Plattformen sozialer Netzwerke wirksamer“ bekämpft werden, heißt es auf der Internetseite des Bundesjustizministeriums. Die Betreiber von sozialen Netzwerken sind nun dazu verpflichtet, Nutzerbeschwerden unverzüglich auf strafrechtliche Relevanz zu prüfen, und offensichtlich strafbare Inhalte binnen 25 Stunden zu löschen oder zu sperren. Beschwerden über Inhalte, die nicht eindeutig strafbar sind, müssen innerhalb von sieben Tagen bearbeitet werden.

Wird Hassrede, oder auf Englisch Hate Speech genannt, überhaupt als solche wahrgenommen? Das forsa-Institut hat im Auftrag der Landesanstalt für Medien NRW im Dezember 2018 über 1000 Internetnutzer über 14 Jahre in Deutschland befragt, um unter anderem auf diese Frage eine Antwort geben zu können. Bei dieser Umfrage „Hate Speech und Diskussionsbeteiligung im Internet“ gab fast jeder zweite Befragte an, bereits Hate Speech in Posts oder Kommentaren in sozialen Medien wie Facebook oder Instagram begegnet zu sein. 35 Prozent gaben an, Hate Speech in Kommentarspalten beziehungsweise Foren bei Nachrichtenwebseiten gesehen zu haben.

Jeder Zweite beteiligt sich zumindest ab und zu an öffentlichen Diskussionen im Internet.

forsa-Institut im Auftrag der Landesanstalt für Medien NRW

Bleiben wir kurz bei den Nachrichtenwebseiten: Wenn diese beispielsweise einen Artikel online oder auf einem sozialen Netzwerk posten, gibt es neben positiven oder neutralen Reaktionen auch beleidigende Kommentare gegen Autoren oder meist Protagonisten. Eine mögliche Reaktion wäre, die Kommentarfunktion abzuschalten. Doch auch das könnte als Eingriff in die freie Meinungsäußerung im Internet gesehen werden, denn dort sind Kommentare ein gängiges Kommunikationsmittel. Laut der zuvor erwähnten forsa-Umfrage beteiligt sich jeder Zweite zumindest ab und zu an öffentlichen Diskussionen im Internet. Und auch der Artikel 5 des GG, der unsere Meinungsfreiheit schützt, verbietet Zensur. Besonders während der Europa- und Bremenwahl im Mai dieses Jahrs wurde eine Debatte über eben diesen Artikel im Bezug aufs Internet losgetreten. Die CDU-Bundesvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer hatte im Zuge der Diskussion um das Rezo-Video Youtubern Meinungsmache vorgeworfen und Regulierungen fürs Internet ins Gespräch gebracht. Das wurde ihr von der Öffentlichkeit hingegen als Einschränkung der Meinungsfreiheit und Zensur ausgelegt. Aber zurück zum eigentlichen Beispiel: Wegen Hasskommentaren unter journalistischen Inhalten sind die Redaktionen gezwungen, stets ein Auge auf diese Nutzerreaktionen zu haben. Um bei Äußerungen, die nach einem strafrechtlichen Inhalt klingen, einen möglichst einfachen Beschwerdeprozess zu haben, gibt es die Initiative „Verfolgen statt nur Löschen – Rechtsdurchsetzung im Netz“. Sie soll Medienunternehmen bei der Anzeigenerstellung helfen und klare Ansprechpartner vermitteln. Anfang 2017 hat die Landesanstalt für Medien NRW gemeinsam mit der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime NRW, dem Landeskriminalamt NRW, der Polizei Köln und einigen Medienhäusern des Landes diese Arbeitsgruppe gegründet. Laut eigenen Angaben der Initiative wurden seit Februar 2018 über 280 Fälle angezeigt und 110 Strafverfahren eingeleitet.

Mit Hate Speech wurde das Rad der Beleidigung jedoch nicht neu erfunden. Das gab es schon in der „analogen“ Welt. Was sich allerdings geändert hat ist die Wahrnehmung und Reichweite. Wenn man sich in der „analogen“ Welt beleidigende Worte direkt ins Gesicht sagt, hören es die Leute, die drumherum stehen. Eine weitere Personengruppe wird davon erfahren, wenn mindestens einer der Beteiligten das Geschehene weitersagt. Im Internet hingegen, wenn man einen Kommentar auf einer öffentlichen Seite schreibt, sind die beleidigenden Worte für viel mehr Menschen sofort sichtbar. Somit wird der angerichtete Schaden vielleicht nicht unbedingt größer, aber zumindest bekannter. Andererseits gibt es im Internet das Phänomen der Anonymität. Wenn man sich beispielsweise bei Facebook anmeldet, kann man seinen richtigen und vollständigen Namen angeben. Oder auch nicht. Spitznamen oder eine kreative Abwandlung des eigenen Vornamens sind nicht unüblich. Wenn man möchte, kann man also anonym bleiben und unter diesem Deckmantel Beleidigungen veröffentlichen. Ein bisschen wie Klingelmännchen früher. Man ärgert die Hausbewohner mit einem penetrant-unrhythmischen Klingeln und rennt weg, noch bevor jemand die Tür öffnen kann. Denn man möchte unerkannt bleiben. Witzig für die Klingelmännchen, nervig für die Anwohner. Auch Social Bots, also unechte Accounts, die künstlich erschaffen wurden, keine existierende Person repräsentieren aber echtes Nutzerverhalten imitieren, sind solche Ruhestörer. Die Deutsche Welle erklärt in einem Video, dass Social Bots zu einer „echten Plage“ in den sozialen Netzwerken geworden seien, da sie meistens negativ eingesetzt werden und durch überdimensioniertes Liken und Teilen die Wahrnehmung der Wichtigkeit bestimmter (politischer) Themen beeinflussen.

„In Social Communities werden manchmal Diskussionsgruppen gegründet, die allein der Lästerei über eine bestimmte Person dienen.“

Bundesfamilienministerium

Hasskommentare und Social Bots sind nur zwei Beispiele dafür, dass die Möglichkeit, unsere Meinung frei ins Internet hinauszuposaunen nicht direkt zu mehr Toleranz oder gar einer sozialen Welt führt, sondern ihre Nicht-Kontrolle zur Gefahr werden kann. Darüber hinaus gibt es noch Cybermobbing, bei denen meistens Jugendliche mithilfe von Kommunikationsmedien bedroht, beleidigt, bloßgestellt oder belästigt werden. Das Bundesfamilienministerium definiert dieses Phänomen folgendermaßen: „Das Mobbing kann verschiedene Formen annehmen. Beispielsweise können diffamierende Fotos oder Filme eingestellt und verbreitet werden. In Social Communities werden manchmal Diskussionsgruppen gegründet, die allein der Lästerei über eine bestimmte Person – sei es nun ein Mitschüler, eine Lehrerin oder andere Internetnutzerinnen oder Internetnutzer – dienen.“ Laut der Jugend, Information, Medien (JIM) Studie 2018 hat jeder dritte Jugendliche im Bekanntenkreis bereits Cybermobbing mitbekommen.

Nach einer sozialen Gesellschaft klingt das allerdings nicht. Eine logische Frage an dieser Stelle lautet: Was bewegt uns, allgemeine Verhaltensregeln und Strafgesetze in Internet nicht mehr zu befolgen? Experten sprechen hier auch von „empathischer Kurzsichtigkeit“. Petra Grimm vom IDE erklärt, dass manche Menschen offenbar das Gefühl für die Wirkung ihrer Äußerungen verlieren, wenn sie diese online tätigen. Auch die Anonymität spiele dabei eine Rolle. Manche Menschen hätten durch diese das Gefühl, keine Konsequenzen befürchten und somit auch keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Geht es hier also um ein viel grundlegenderes Problem, dass wir Menschen generell über unseren Umgang miteinander nachdenken müssen?

Beispiele wie die rege Beteiligung durch Kommentare an Diskussionen im Internet zeigen, dass wir unser Recht auf Meinungsäußerung auch in der digitalen Welt nutzen – was grundsätzlich eine gute Eigenschaft ist. Allerdings zeigen Phänomene wie Hate Speech und Cybermobbing, dass auch hier, oder vielleicht besonders hier in diesem anonym nutzbaren Raum, Kontrollen dringend notwendig sind. Denn: Freie Meinungsäußerung hat auch im Internet seine Grenzen. Und zwar genau dort, wo sie die Grenzen eines anderen überschreitet. Gehen wir nun davon aus, dass es also nicht nur ein „digitales“, sondern auch „analoges“ Problem des unsozialeren Umgangs miteinander ist. Wenn dem so ist, können wir nur hoffen, dass bald Besserung in Sicht ist. Oder eine „Spezies“, die uns Homo sapiens etwas voraushat. Und das führt uns zum Irrtum 4: Künstliche Intelligenz wird uns bald überlegen sein.

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