Können journalistische, gar investigativ recherchierte Inhalte auf einer spaßorientierten Plattform wie YouTube funktionieren? Die Web-Reportagen des Y-Kollektivs können das offenbar, wie 138.000 Abonnenten und knapp 15 Millionen Aufrufe belegen. Jeden Donnerstag erscheint eine neue Folge, oft zu Tabu- oder heiklen Themen wie Sex, Drogen, Religion. Dennis Leiffels, geboren 1986 in Essen, ist Mitbegründer und einer von drei Geschäftsführern der Sendefähig GmbH. Sie produziert im Auftrag von Radio Bremen für funk, das junge Angebot von ARD und ZDF. Wieso die Reportagen des Y-Kollektivs online so gut ankommen und an welche Grenzen sie stoßen, verrät Leiffels im Interview.
„Es wird Zeit, dass es online vernünftige Inhalte gibt“, hast du einmal in einem Interview gesagt. Was macht die Reportagen des Y-Kollektivs im Gegensatz zu anderen Online-Inhalten „vernünftig“?
Leiffels: (lacht) Gute Frage. Ich kann euch sagen, aus welcher Situation heraus das entstanden ist. Ich habe mir den YouTube-Markt angeschaut. Was es dort gibt, kennen wir alle, aber was es dort bislang nicht gab, ist Journalismus. Es ist sehr schwierig, dort mit journalistischen Formaten zu bestehen. Und die Produktionskosten sind sehr viel höher. Ich habe mir aber gedacht, das muss trotzdem irgendwie gehen. Wir müssen uns an dem orientieren, was die Leute dort machen, mit ihrer Technik, mit ihrer Leidenschaft. Ob man die YouTuber mag oder nicht, das sind alles Überzeugungstäter, die hinter ihrem Content stehen. Und genau so stehen wir auch hinter unserem Content. Das macht unsere Reportagen … wie war die Frage am Anfang?
„Vernünftig“, hattest du gesagt.
Genau. Es ist zunächst einmal vernünftig, dass wir in diesen Markt reingehen. Weil es sonst nur Katzenvideos gibt, Essensvideos und viel, viel Comedy. Es ist absolut notwendig, dass journalistische Inhalte dort stattfinden. Wir orientieren uns dabei an den öffentlich-rechtlichen Standards. Das macht es noch vernünftiger.
YouTuber wie Bibi oder Sami haben keine journalistische Ausbildung, sind aber erfolgreicher als ihr. Macht euch das wütend?
Nee, das ist ja logisch. Die Leute warten nicht auf Journalismus. Wir gehen nicht auf diese Plattform und alle schreien: „Hurra, öffentlich-rechtliche Reportagen und Journalisten sind da!“ Ich kann verstehen, dass die Leute unterhalten werden wollen. Das machen wir ja auch. Wir versuchen, Journalismus mit unterhaltenden Elementen zu verknüpfen. Aber dass die YouTuber erfolgreicher sind als wir, liegt in der Natur der Sache. Die machen das auch schon sehr viel länger.
Okay, die Leute „warten nicht auf Journalismus“. Wie kommt ihr dann auf sie zu?
Unsere Zielgruppe von 24 bis 29 können wir nicht mehr mit linearem Fernsehen erreichen. Früher haben Fernsehjournalisten – und ich bin selbst einer – versendet. Ich habe meinen Film in die Mattscheibe reingepresst und mir war klar, dass sich das jemand anschaut. Unsere Generation muss gezielter angesprochen werden. Wir haben sehr viel mehr Konkurrenz im Netz. Die journalistische Haltung muss sich verändern. Ich muss dir etwas anbieten und sagen: „Hey, mir ist dieses Thema wichtig, und zwar aus dem und dem Grund, bitte interessiere du dich auch dafür.“
Wenn junge Leute nicht mehr mit linearem Fernsehen zu erreichen sind, warum veröffentlicht ihr pünktlich jeden Donnerstag eine neue Reportage?
Menschen sind Gewohnheitstiere. Auch auf YouTube tut eine gewisse Verlässlichkeit gut. Viele Leute schreiben uns: „Ich sitze jeden Donnerstag davor und warte, bis ihr in meiner Abo-Box auftaucht.“ Außerdem müssen wir dem YouTube-Algorithmus gefallen, und der steht einfach auf Regelmäßigkeit.
Klingt sehr linear. Wieso habt ihr neben der Internetpräsenz nicht auch einen festen Sendeplatz im Fernsehen wie etwa Jan Böhmermann?
Das ist eine Entscheidung für funk – und funk möchte online only funktionieren. Vorher habe ich für Formate gearbeitet, die den Spagat probiert haben, linear und online gleichzeitig. Es ist besser, sich auf eins zu konzentrieren. Das muss bei Böhmermann nicht so sein. Seine Quote im Fernsehen ist aber gar nicht so dolle. Unser Vorteil ist zum Beispiel, dass wir keine Sendelänge haben. Unser Inhalt ist so lang, wie er trägt. Das können sieben Minuten sein, zehn oder dreißig.
Apropos Inhalt, bei eurer Themenauswahl erkennt man nicht sofort einen roten Faden. Habt ihr überhaupt Kriterien dafür?
Wir interessieren uns für die großen Herausforderungen unserer Zeit. Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Umwelt und Nachhaltigkeit, Krieg und Frieden, Gender und Feminismus. Das ist unser roter Faden. Und ein noch viel größerer roter Faden ist, dass ein Thema uns selbst wichtig sein muss. Je mehr Lust du auf eine Geschichte hast, desto echter wird sie.
Wie passen Ritalin- oder Tantra-Selbstversuche dazu?
Es geht uns darum, zu zeigen, wie die Welt ist. Wir sind teilnehmende Beobachter. Die Geschichte zum Ritalin habe ich selbst gemacht. Ich wollte zeigen, wie das wirkt. Das ist ein heiß diskutiertes Thema in der Zielgruppe, was mich mehr als überrascht hat. Dazu hat mir eine Ärztin erzählt, wie unerforscht Ritalin ist, welche Nebenwirkungen es gibt. Das zusammenzutragen, ist im klassischen Sinne journalistisch.
Eure Zielgruppe von 24 bis 29 ist sehr klein. Warum?
Ich finde es gut zu wissen, für wen da draußen wir das machen. Im klassischen Fernsehen habe ich das manchmal vermisst. Viele Journalisten produzieren erst mal für sich und vergessen ihre Zielgruppe. Bei uns ist es ganz klar. Viele von uns sind in dem Alter, das ist unsere Generation. Wir sind Teil der Zielgruppe. Und je besser die definiert ist, umso mehr weiß man, wie man sie erreicht. Bei YouTube sehen wir sofort, ob wir das geschafft haben.
Du selbst bist altersmäßig schon aus der Zielgruppe herausgefallen. Weißt du trotzdem noch, was die jungen Leute sehen wollen?
Ich habe vorher für ein Regionalmagazin gearbeitet; da war die Zielgruppe 60+. Ich bin überzeugt, dass diese meine Inhalte verstanden und gerne konsumiert hat. Es gab keine Beschwerden, dass ich zu jung war. Diese Diskussion ist albern. Die Kinderlieder, die wir früher immer gesungen haben, haben keine Kinder geschrieben – sondern Rolf Zuckowski, ein erwachsener Mann. Solange man sich in die Zielgruppe hineinversetzen kann, ist alles gut.
Warum habt ihr dann keinen 60-Jährigen im Team?
Das ist nicht ausgeschlossen. Wir haben auch Reporter, die um die 50 sind.
Wollen junge Leute überhaupt noch Reportagen sehen?
Die Frage haben wir uns am Anfang auch gestellt. Meine Antwort war: ja. Es kommt darauf an, welche Form die Reportage hat. Ist der Reporter ein hochnäsiger Typ mit Seidenschal oder jemand wie du und ich? Wenn wir zum Maidan fahren, stehen wir oben auf der Hotelterrasse und schauen hinab oder sind wir mittendrin? Unser Anspruch ist, auf Augenhöhe mit den Leuten zu sein. Unsere Tabugrenze ist auch lockerer. Die Geschichte übers Kiffen taugt vielleicht nicht fürs klassische Fernsehen, aber für unsere Zielgruppe schon.
Habt ihr dadurch, dass ihr öffentlich-rechtlich seid, trotzdem noch gewisse Tabus?
Radio Bremen fördert uns in dem, was wir tun. Die sagen: „Seid mutig!“ Das geben wir unseren Reportern so weiter. Nichtsdestotrotz gelten für uns die gleichen Regeln. Da wir sehr subjektiv berichten, müssen wir objektiv recherchieren. Teilweise müssen wir die andere Haltung einnehmen. Es gibt juristische, ethische und moralische Hürden, aber eben kaum organisatorische.
Gibt es sonst im öffentlich-rechtlichen Rundfunk viele organisatorische Hürden?
Ja, die gibt es. Aber wir arbeiten eher nach den Maßgaben der freien Wirtschaft.
Seid ihr deshalb nicht direkt bei Radio Bremen angesiedelt?
Christian Tipke und ich wollten anders arbeiten, autark, nicht in diesem System. Wir möchten das Material per FTP-Server transferieren, unsere Kameras selbst aussuchen, ob iPhone, FS5 oder Red. Wir entscheiden je nach Inhalt, welche Kamera wir einsetzen, sind also keine klassische Produktionsfirma.
Könntet ihr ohne den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bestehen?
Schwierige Frage. Wer in diesem Zyklus Reportagen machen möchte, braucht natürlich einen Auftraggeber, sonst geht’s nicht. Wir könnten ohne Radio Bremen nicht um den kompletten Erdball reisen oder selbst hier vor Ort die Geschichten in der Schlagzahl wie jetzt machen.
Ist das ein Gefühl der Abhängigkeit?
Für uns als Produktionsfirma? Nee, wir machen ja auch andere Sachen.
Wünscht ihr euch im Netz mehr Reportage-Formate wie euer eigenes und damit mehr Konkurrenz?
Natürlich! Je mehr Leute journalistische Inhalte ins Internet blasen, desto besser. Desto weniger Fake News und Videos mit wirklich blödem Inhalt haben wir. Ich sehe das gar nicht als Konkurrenz. Make YouTube great again! Wenn da Leute mitmachen wollen – willkommen im Klub!
Bei YouTube und auch bei Facebook gibt es gewisse Spielregeln.
Natürlich hätte ich am liebsten eine unabhängige Plattform. Schön ist, dass funk Kanäle ohne Werbung hat. Die dürften wir auch gar nicht schalten. Wir unterwerfen uns also nicht der Werbelogik von YouTube und Facebook mit Produktplatzierung und Co. Sonst würden wir das nicht machen.
Aber ihr unterwerft euch auf diesen Plattformen einem Algorithmus.
Klar, da müssen wir nicht drum herumreden. Und was das Rechtliche angeht: Ich darf im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mehr zeigen als bei YouTube und Facebook; blanke Brüste beispielsweise. Die zu zeigen, hat manchmal einen guten Grund, etwa wenn man über Brustkrebs berichtet. Aber selbst dann würde YouTube sagen: Brüste? Geht nicht!
Also ist es für euch schwierig, über Brustkrebs zu berichten?
Nein, wir würden kein Thema ausschließen, nur weil wir auf einer bestimmten Plattform sind.
Aber ihr würdet den Beitrag anders bauen?
Vielleicht würden wir es einfach mal riskieren.
Zum Schluss darfst du träumen: Wo bist du mit dem Y-Kollektiv in zehn Jahren?
Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Es wäre auch fatal, in dieser Internet-Welt einen Zehnjahresplan zu haben. Wir müssen immer wieder darauf reagieren, wo Video-Inhalte stattfinden. Im Moment auf YouTube und Facebook. Aber vielleicht wird in drei Jahren Wululu entwickelt und Wululu ist die neue Plattform für Videos, dann ziehen wir um zu Wululu, ganz klar.
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