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Wie sehr gerät das demokratische System unter Druck, wenn sich die Entwicklung fortsetzt, dass immer mehr Menschen immer weniger über ihre ideologischen »Zäune« hinweg kommunizieren? Die Sorge vor solchen Filterblasen oder Echokammern ist groß. Wie fruchtbringend es sein kann, sie zu durchbrechen, hat die Wochenzeitung „Die Zeit“ 2017 mit einem Projekt gezeigt, dass Menschen mit gegensätzlichen Auffassungen an einen Tisch gebracht hat. Diese und andere Stiche in der Filterblase beobachtet Hannah Schmidt in ihren „Aufzeichnungen aus der Echokammer“. Ihr Text ist ein Auszug aus dem Buch „Wenn Maschinen Meinung Machen“, das im März 2018 im Westend-Verlag erschienen ist.
Ich bin ein hoffnungsvoller Mensch. Ich bin ein gutgläubiger Mensch. Ich glaube, Menschen sind vernunftbegabt und Konflikte lösbar. Ich verurteile keine Menschen, deren Handlungsabsichten, Hintergründe und Geschichten ich nicht kenne. Frieden ist möglich, wenn jede Hierarchie abgeschafft ist und alle Waffen auf der Welt eingeschmolzen sind. Reichtum ist eine Perversion, political correctness ist wichtig, Multikulturalität und Multireligiosität das Beste, was einer Gesellschaft passieren kann, und Freiheit und Überwachungskameras schließen einander aus. Alle Menschen sind gleich. Die Früchte der Erde gehören allen, und die Erde gehört niemandem.
– Frei nach: Fjodor Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch1
Ich lebe in einer Welt, in der dies vertretbare Überzeugungen sind, eine Welt, in der diese Ansichten gestärkt und mit Fakten und weiteren Meinungen untermauert werden. In meiner Welt. Meiner Echokammer.
Als die ZEIT im Frühjahr 2017 die Aktion »Deutschland spricht« startete, füllte ich zunächst voller Elan und hochmotiviert den Online-Fragebogen aus. War der Ausstieg aus der Atomenergie richtig? Ja. Hat Deutschland zu viele Flüchtlinge aufgenommen? Nein. Soll Deutschland zur D-Mark zurückkehren? Nein. Sollen homosexuelle Paare heiraten dürfen? Ja. Und so weiter. Am Ende hätte ich nur noch meine Mailadresse eingeben müssen, um jemanden kennenzulernen, der diese Fragen genau umgekehrt beantwortet hat. Ich zögerte kurz. Und entschied mich dagegen.
Vor den 1 200 Menschen aber, die sich am 18. Juni 2017 dennoch trafen, um miteinander über ihre Antworten zu diskutieren, ziehe ich im Nachhinein den Hut. Denn was sie sich getraut haben zu tun, ist etwas, worauf eine Gesellschaft fußt, von dem sich Demokratie speist, und das zunehmend wichtiger werden wird, wie ich jetzt nach und nach verstehe: miteinander sprechen, miteinander ringen, miteinander in Dialog treten. Vor allem vor dem Hintergrund der jeden von uns betreffenden Personalisierung der Informationen, die uns über Suchmaschinen- und Nachrichtendienste erreichen, der Twitter-Feeds und Facebook-Timelines und der Nachrichten-Apps, die wir auf dem Telefon haben – alles, was zusammen genommen unsere sogenannten Echokammern bildet.
Die gefilterte Welt
Eli Pariser, Politologe und Board President der NGO »MoveOn«, hat im Jahr 2011 den Begriff »Filter Bubble«2 geprägt für das Phänomen einer gefilterten Welt, in die unaufmerksame Smartphone- und PC-Nutzer schneller eintauchen, als ihnen klar wird. Wer bei www.strumpfhosen.de eine Strumpfhose kauft, bekommt danach bei Facebook Strumpfhosenwerbung zu sehen, und wer bei Facebook auf eine Werbeanzeige klickt und vielleicht sogar etwas auf der Seite kauft, bekommt entsprechende Anzeigen auch auf den Webseiten anderer Anbieter wie beispielsweise Amazon angezeigt. Wer in der Tagesschau-App oder bei CNN+ ein Kreuzchen bei »Personalisierung« macht, bekommt entsprechend seines Klickverhaltens vor allem solche Nachrichten prominenter angezeigt, die ihn interessieren könnten. Schon die Google-Trefferliste bei vermeintlich politisch ähnlich eingestellten Menschen kann völlig unterschiedlich aussehen.3 Vieles davon passiert automatisch: Ein Algorithmus errechnet aus dem Klick- und Verweilverhalten eines Internetnutzers seine Vorlieben und bedient diese. Die Software lernt. Und das Angebot wird immer persönlicher, immer perfekter zugeschnitten.
Den wenigsten Menschen wird das unangenehm auffallen. Sie bekommen einen unglaublichen Service geliefert, nämlich immer das Neueste und Relevanteste aus der Welt ihrer Interessen und Vorlieben, überall und in Echtzeit. Das Weltbild des Medienrezipienten in den 2010er-Jahren ist egozentrisch, und er selbst ist das Zentrum, um das alles ihm wichtig Erscheinende kreist, er ist ein kleiner Louis Quatorze der Nachrichtenwelt, der König seiner eigenen Informationsdynastie.
Es liegt Menschen von Natur aus nahe, die eigene Meinung durch Informationen von außen zu stärken, der psychologische Fachbegriff hierfür lautet »selective exposure«4: Informationen werden vom Gehirn nicht neutral verarbeitet, sondern immer vor dem Hintergrund der persönlichen Meinung, und diese wird bevorzugterweise gestärkt.5 Dazu haben wir in dieser Zeit der intelligenten Digitalisierung mehr Möglichkeiten als je zuvor. Ob es deshalb die »Filter Bubble« tatsächlich gibt oder nicht, ist umstritten, und es gibt auch gute Gegenargumentationen, wie zuletzt von Tin Fischer in der ZEIT6: »Besuchen Sie mal eine beliebige Nachrichtenseite, beispielsweise das linksliberale ZEIT ONLINE. Klicken Sie auf den erstbesten Politik-Artikel […] Lesen Sie die ersten drei Leser-Kommentare. Und? Haben Sie den Eindruck, dass da nur linksliberale Akademiker sich selbst bejahen?« Das Internet hat, wie Fischer schreibt, »das Spektrum an sozialen Kontakten und politischen Meinungen in nie da gewesener Weise erweitert.«7 Das stimmt. Doch eröffnet es gleichzeitig die Möglichkeit – und darum geht es hier –, sich informationstechnisch in nie da gewesener Weise nicht nur zu isolieren, sondern sich eine eigene Realität zu erschaffen.
Entscheidung war mal ein aktiver Prozess
Es gibt schon lange Meinungsmanipulation. Es gab Zeitungen und Blätter, die eine »andere« Meinung vertraten, es gab Milieus und Szenen, in denen Menschen sich bewegt haben. Aber es war zumeist möglich, die gegensätzlichen Strömungen nachzuvollziehen: In die »andere« Zeitung konnte man einen Blick werfen, den »anderen« Fernseh- oder Radiokanal konnte man einschalten. Es war, so schreibt Pariser, als setze man »eine getönte Brille« auf, über deren Benutzung man sich in diesem Moment voll bewusst war.8 Die Anzahl der Tönungen war überschaubar – und sich für eine zu entscheiden war ein aktiver Prozess: Die BILD-Zeitung lag am Kiosk neben anderen Blättern, es gab die Hippies und die Juppies, SPD und CDU, Ost und West – und selbst wenn diese Welt noch deutlich komplexer war als hier dargestellt, waren es doch immer Gruppen von Menschen, die den gemeinsamen Austausch pflegten, die in etwa den gleichen Horizont hatten – es waren die gleichen über Hof, Verwaltungen und Handelskreise »erweiterten Milieus«, in denen sich im 18. Jahrhundert die Zeitungen überhaupt erst entwickelten.9 In meiner Echokammer aber bin ich heute alleine. […]
2016 gab Instagram, ein zu Facebook gehörendes, bilderbasiertes soziales Netzwerk, bekannt, ab sofort würden im Nachrichtenstrom der Nutzer die Informationen nicht mehr chronologisch dargestellt, sondern basierend »auf der Wahrscheinlichkeit, mit der ein Anwender am Inhalt interessiert ist, auf der Beziehung, die er zur Person unterhält, welche Bilder er oder sie teilt, und der zeitlichen Aktualität des Inhalts«. Ab sofort also, interpretiert es Yvonne Hofstetter, »kontrolliert der Konzern den Inhalt der angezeigten Information«. Nur etwa 30 Prozent der Informationen eines Nachrichtenstroms, heißt es in der Mitteilung, seien »relevant« für den Anwender. Und genau diese 30 Prozent »gelte es zu filtern«.10
Das Problem: Da der Anwender die genauen, detaillierten Kriterien, nach denen diese Filter seine Timeline zusammengestellt haben, nicht kennt, hält er die Auswahl im schlimmsten Fall für neutral, objektiv und wahr. »So ist es aber nicht«, schreibt Eli Pariser: »Wenn man einmal in der Filter Bubble steckt, ist es beinahe unmöglich zu erkennen, wie vorgefasst sie ist.«11 Diese Personalisierung im Internet führt ihre Nutzer in eine Art Informationsdeterminismus, und jeder Klick innerhalb dieses Determinismus bestimmt, was der jeweilige Nutzer als Nächstes zu sehen bekommt. […]
Was bedeutet all das für das »Deutschland spricht«-Problem? Für die Demokratie?
Der russische Autor Fjodor M. Dostojewski schreibt in seinen Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: »Übrigens: worüber kann ein anständiger Mensch mit dem größten Vergnügen reden? Antwort: über sich selbst. Also werde auch ich über mich selbst reden.«12 Über uns selbst zu reden ist vielleicht gar das Einzige, was uns in unserer Echokammer-Welt noch zuverlässig möglich ist. Was wissen wir denn über die Welt? Doch nur das, von dem der Logarithmus meint, dass wir es über sie wissen wollen. Wir wissen das, was »Google, Amazon und Facebook […] uns sehen lassen«,13 was uns unserem Profil entsprechend über sie zugespielt wird – also wissen wir am Ende nichts über die Welt, aber sehr viel über uns selbst. Wir werden zu starken Individuen erzogen, die wissen, was sie wollen und was nicht, wem sie zustimmen und wem nicht, die wissen, was ihnen gefällt und was nicht und was sie unter eigenem Namen weiterzuverbreiten bereit sind und was nicht. Wer sich nicht positioniert in der sozial-digitalen Welt, der geht unter, der wird nicht wahrgenommen. […]
Nicht nur ich definiere mich in einer Welt, zu der ich gehöre, sondern ich definiere auch die Welt, zu der ich gehören möchte. Ich stecke, so gut es geht, die Grenzen dieser Welt ab, innerhalb derer meine Äußerungen bleiben, und umgebe mich mit Sympathisanten. Ist denn meine humanistische Weltsicht so fragil, dass die Konfrontation mit Andersdenkenden sie nicht nur ins Wanken bringen, sondern direkt restlos zerstören könnte? Gerade vor einer Wahl ist es doch essentiell, sich mit den Weltsichten anderer Menschen auseinanderzusetzen. Und jetzt habe ich die Möglichkeit, durch einen einzigen Klick mit jemandem konfrontiert zu werden, der seine kleine Welt, seine Echokammer, ganz anders abgesteckt hat als ich. Jemand, dem von allen Seiten eine Meinung entgegenschallt, die nicht nur anders als meine ist, sondern ihr gar widerspricht. Ja – Nein. Jemand, der entsprechend seines Lebens im eigenen Echo-Echo-Echo von seiner Ansicht sehr überzeugt ist.
Der für die Stärkung seiner Argumente Fakten kennt, die möglicherweise – sehr wahrscheinlich sogar – an mir vorbei gegangen sind. Im schlimmsten Fall sitze ich jemandem gegenüber, der mit Daten und Zahlen und Namen und historischen Begebenheiten und Statistiken um sich werfen kann wie ein Zirkusjongleur seine bunten Gummibälle, ohne die Kontrolle über sie zu verlieren – und der meine Welt, das, woran ich glaube, gnadenlos dekonstruiert. Könnte es etwas Existenzielleres, etwas Schlimmeres geben?
[…]
Und das ist die Autorin Hannah Schmidt, 1991 geboren, hat an der TU Dortmund Musikjournalismus studiert, musikjournalistische Schreibschulen und Akademien besucht und volontiert für vier Monate im Feuilleton der ZEIT. Sie arbeitet als freie Autorin unter anderem für die Ruhr Nachrichten in Dortmund und das Musikmagazin niusic.de.