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„Bürger sind letztendlich nur noch Datenpunkte“

Ingo Dachwitz - Foto: darjapreuss.com

Interview mit Ingo Dachwitz, Redakteur bei netzpolitik.org

Ingo Dachwitz ist Redakteur bei netzpolitik.org mit den Schwerpunktthemen Strukturwandel der Öffentlichkeit und Datenpolitik. Er hat Medienmanagement in Hannover studiert sowie Medien und politische Kommunikation an der Freien Universität Berlin.

Herr Dachwitz, was ist Microtargeting?


Ingo Dachwitz: Microtargeting ist eine Kommunikationsstrategie, bei der es darum geht, Botschaften möglichst genau auf möglichst kleine Zielgruppen zuzuschneiden. Das passiert auf Basis der Datenprofile dieser Zielgruppen. Wenn man es modelhaft machen möchte, erfolgt das in drei Schritten: Jemand, der kommuniziert, definiert zuerst eine Zielgruppe. Im zweiten Schritt erfolgt die Ansprache dieser Zielgruppe über unterschiedliche Kanäle. Das kann Online-Kommunikation sein in den sozialen Medien, aber auch Offline-Kommunikation wie der Haustürwahlkampf.

Im dritten Schritt kommt die Auswertung der Maßnahmen und daraufhin erfolgt dann wieder Datenanalyse und Zielgruppenzuschnitt. Es kann also ein zirkulärer Prozess sein. Das kommt eigentlich aus dem kommerziellen Marketing, wird aber auch in der politischen Kommunikation genutzt.

Was erhofft man sich davon?


Bei Kampagnen mit Microtargeting hofft man auf weniger Streuverluste, weil Leute mit den Botschaften erreicht werden können, auf die sie besonders gut reagieren. Das ist zumindest die Theorie, um dann den möglichst großen Effekt zu erzielen. Dass Botschaften auf Zielgruppen zugeschnitten werden, ist kein total neues Phänomen. Es gibt beispielsweise Erzählungen von William Jennings Bryan, der Anfang des 20. Jahrhunderts US-Präsidentschaftskandidat war. Von dem heißt es, dass seine Frau und sein Bruder für ihn eine Datenbank mit politischen Kontakten gepflegt haben, verbunden mit Themen, so dass er immer wusste, wen er worauf ansprechen kann, um dann die Botschaften zuzuschneiden.

Wie kommen die Parteien denn heutzutage an die Daten?


Das ist sehr unterschiedlich. Einfach geht es beispielsweise über die sozialen Medien. Da braucht man gar keine eigenen Daten, sondern kann auf Basis der Daten, die die Plattformen bereitstellen, das Zuschneiden machen. Ansonsten hängt es sehr von den Länderregeln ab. In den USA beispielsweise, wo das Datenwesen sehr unreguliert ist, bauen Parteien seit Jahrzehnten große Datenbanken auf und machen auf deren Grundlage Prognosen.

Dieser Aufbau der eigenen Datenbanken kommt auch in Europa. Zwar setzt die Datenschutzgrundverordnung engere Grenzen, aber wir wissen beispielsweise, dass in Österreich die Kampagne von Sebastian Kurz seit 2013 Datenbanken mit Unterstützern aufbaut.

Bei den Daten ist auch oft die Rede von psychografischen Daten. Was ist das?


Das ist ein Sonderfall. Mit psychografischen Daten sind solche Informationen gemeint, die die Psyche analysieren. Also beispielsweise die Einordnung in bestimmte Risiko- oder Persönlichkeitstypen. Vor allem durch den Cambridge-Analytica-Skandal ist ans Licht gekommen, dass die Firma Cambridge Analytica psychografische Analysen, Persönlichkeitsanalysen sind das letztendlich, auf Basis von Facebook-Daten für Millionen von Menschen gemacht hat und für Wahlkampfkommunikation genutzt hat.

Werden solche psychografischen Analysen auch in Deutschland gemacht?


Die Schwierigkeit ist, dass man insgesamt nicht besonders viel darüber weiß, was eigentlich gemacht wird. Weder die Plattformen noch die Parteien lassen sich da gern in die Karten schauen. Es ist in Deutschland kein krasser Fall von psychografischem Profiling bekannt, was nicht heißt, dass es nicht stattfindet. Das wurde immer erst im Nachhinein aufgedeckt. In Deutschland sind die Parteien insgesamt aber eher zurückhaltend, was die Nutzung von Microtargeting angeht. Weshalb ich erstmal davon ausgehen würde, dass es nicht gemacht wird.

Eine Gefahr durch Missbrauch gibt es aber trotzdem?


Die grundsätzliche Frage, die sich stellt, ist: Wo verläuft die Grenze zwischen legitimer Werbung und manipulativer Information? Diese Grenze ist natürlich irgendwie fließend und wird neu verhandelt. Ich finde, man kann argumentieren, dass Manipulation schon dort anfängt, wo ich Daten sammle über Leute, die beispielsweise meinen Newsletter mit Spendenaufrufen abonniert haben, und ich ohne ihr Wissen ihr Verhalten analysiere und auf dieser Grundlage die erbetenen Spendenbeiträge anpasse. Damit ist die Obama-Kampagne sehr erfolgreich gewesen. Das berührt die Debatte vom Nudging (Anm. d. Red.: „Anstoßen“ oder „Schubsen“). Wo endet der freie Wille und wo ist es eine unlautere Einflussnahme?

Dann gibt es die krassen Extremfälle, über die gesprochen wird, beispielsweise den Cambridge-Analytica-Skandal. Dort haben die Whistleblower erzählt, dass auf Basis der angelegten Persönlichkeitsprofile ein eigenes Informations- und Fake-News-Ökosystem in Form von Blogs, Facebookseiten und -gruppen erstellt wurde, um die Leute immer weiter mit Informationen zu bearbeiten, die sie überzeugen oder verunsichern. Denn es geht beim Microtargeting nicht nur darum, Leute psychologisch total umzudrehen in ihrer politischen Meinung.

Worum geht es denn sonst?


Wir haben bei der Trump-Kampagne gesehen, dass Microtargeting für Negative Campaigning eingesetzt wurde. Da haben beispielsweise schwarze US-Amerikaner Online-Werbung angezeigt bekommen, die Hillary Clinton bei der Benutzung eines rassistisch aufgeladenen Begriffs gezeigt hat. Das war ein altes Video aus den 90ern, das aus dem Kontext gerissen wurde. Oder Frauen haben gezielt Wahlwerbung gezeigt bekommen, die auf den Seitensprung von Bill Clinton als US-Präsident eingegangen ist, um das Image von Hillary Clinton als Feministin oder starke Frau zu untergraben.

Es sind also ganz unterschiedliche Einsatzformen denkbar und die Grundfrage ist die der Fairness und Augenhöhe. Man könnte eine größere Dimension aufmachen, indem man sich anschaut, was diese Form der Kommunikation mit dem Verhältnis zwischen Politikern und Bürgern macht. Es soll ja um einen Austausch auf Augenhöhe gehen und die Ideen und den Willen der Bevölkerung. Dieses Verhältnis wird durch Microtargeting und datenbasierte Wahlkampfkommunikation total verändert, weil Bürger letztendlich nur noch Datenpunkte sind, die mit Impulsen bearbeitet werden, um sie in eine bestimmte Richtung zu überzeugen.

Klingt gefährlich für eine Demokratie.

Man muss das differenziert betrachten. Wir müssen als Gesellschaft aushandeln, welche Form der datenbasierten Kommunikation und Analyse wir akzeptabel finden und welche Maßnahmen wir ergreifen müssen, damit es nicht zu unlauterer Manipulation kommt. Und wir müssen natürlich auf das krasse Manipulationspotenzial gucken. Daher würde ich sagen, dass gerade diese psychografischen Analysen das Manipulationspotenzial so erhöhen, dass sie eine besondere Gefährdung darstellen.

Hat Microtargeting überhaupt positive Seiten für eine Demokratie?

Ein grundsätzliches Problem von Microtargeting ist, dass es die Fragmentierung der Öffentlichkeit vorantreibt. Das heißt, wenn ich als Politiker oder Partei den Leuten nur zuspiele, was sie hören wollen, verstärkt das die Tendenz zur Fragmentierung, die wir in den sozialen Medien ohnehin haben. Es gibt aber auch die Gegenthese, dass man Filterblasen durchstoßen kann und Leute besonders gut erreicht, die man sonst vielleicht nicht erreicht.

Ist es für Nutzer erkenntlich, wenn sie Ziel von Microtargeting sind?

Selbst, wenn die Leute realisieren, dass sie getargetet werden, können sie das nicht wirklich nachvollziehen. Das liegt an Facebooks Pseudo-Transparenz, wo beispielsweise Wohnort und Alter als Gründe für das Anzeigen bestimmter Werbung auftauchen. Journalisten haben aber gezeigt, dass da immer entscheidende Targeting-Kriterien weggelassen werden. Das heißt, die Nachvollziehbarkeit ist für das Individuum heutzutage nicht gewährleistet.

Wie würde Transparenz seitens der sozialen Netzwerke denn aussehen?

Die müssen Transparenz über die Targeting-Kriterien offenlegen. Also wirklich für Nutzer nachvollziehbar machen, welche Daten eigentlich genutzt wurden, um sie als Zielgruppe zu erreichen, und warum. Welche Kriterien machen mich für den Werbenden interessant? Das ist wichtig, um sich selbst ein Bild machen zu können und als aufgeklärte Öffentlichkeit einen Diskurs über die Werbestrategien der Parteien führen zu können. Aber das berührt natürlich das Geschäftsmodell der Plattformen.

Wie steht es um die Transparenz der Parteien?

Da gibt es noch Defizite. Ich hätte erwartet, dass nach dem Cambridge-Analytica-Skandal die Parteien im EU-Wahlkampf proaktiv darüber informieren, was sie mit Daten machen, wie sie die Daten speichern und einsetzen, welche Daten sie wo einkaufen. Das ist aber nicht passiert.

Wird unsere Demokratie insgesamt vom Microtargeting profitieren?

Ich glaube zumindest, dass das Missbrauchs- und Gefährdungspotenzial bislang größer ist als der gesellschaftliche Nutzen. Die Verfechter von Microtargeting sagen, die Effizienzgewinne sind so groß. Da wir über so ein heikles Feld wie die politische Kommunikation und Wahlkämpfe sprechen, müsste die Logik meiner Meinung nach eine andere sein.

Die Argumente müssen darlegen, dass der gesellschaftliche Nutzen größer ist als die gesellschaftlichen Risiken. Und so lange sollten wir den Einsatz dieser Technik in der politischen Kommunikation einschränken. Wir sehen ja beispielsweise auch jetzt im US-Wahlkampf, dass Facebook, Twitter und Google das Microtargeting erheblich eingeschränkt haben, weil sie sagen, dass sie nicht kontrollieren können, dass es nicht für Manipulation genutzt wird.

Mir geht es grundsätzlich auch um die Frage, was es mit der politischen Öffentlichkeit und der Fragmentierung macht. Es kann eigentlich keiner ein Interesse daran haben, dass die Leute nur noch das von Politikern zu lesen bekommen, worauf sie am besten reagieren. Grundsätzlich ist es mir ein sympathischeres Bild von Demokratie und Politik, wenn der Austausch zwischen Politikern und Bürgern ein Dialog auf Augenhöhe ist und es nicht in erster Linie darum geht, dass eine Seite die andere Seite zu einer Entscheidung stößt.