Journalismus heute, Wahrheit

„Jede Recherche beginnt online“

Demian von Osten ist Redakteur und Reporter für die ARD. Seit 2012 ist der Social-Media-Experte Recherchetrainer unter anderem für den HR, den WDR und die ARD/ZDF-Medienakademie. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist das Aufdecken von Fake News. Er trainiert regelmäßig ARD-Auslandskorrespondenten in Online- und Social-Media-Recherche und -Verifikation. Im Gespräch mit HeuteMorgenÜbermorgen erklärt von Osten, wie Journalisten im Netz recherchieren sollten – und warum auch Offline-Recherchen immer noch unabdingbar sind. 

Welche Vorteile sehen Sie in der Online-Recherche gegenüber der Offline-Recherche für Journalisten?
Ich glaube, dass Recherche auf allen verfügbaren Wegen geführt werden muss. Ich würde sagen, jede Recherche beginnt heute erst einmal online. Jeder liest sich erst einmal ein und nutzt dazu wahrscheinlich eine große Suchmaschine. Deswegen sehe ich gar nicht, dass es das Eine oder das Andere sein kann, sondern eine Recherche beinhaltet im besten Fall immer Beides.

Was ist Ihrer Meinung nach die größte Gefahr oder Schwierigkeit bei der Online-Recherche?
Die Schwierigkeit ist, dass man Dinge für bare Münze nimmt oder als unbeeinflusst und neutral wahrnimmt, obwohl sie das gar nicht sind. Online ist das ein bisschen leichter, weil es noch nicht so viele Regeln gibt. Dort kann man einfach Inhalte manipulieren, wenn man Interesse daran hat. Gerade bei Social Media erleben wir es ja, dass es viele Tricks dafür gibt, dass bestimmte Postings eine große Reichweite erzielen und andere nicht und das muss man einzuordnen wissen. Das heißt nicht, dass man es nicht verwendet, aber man muss es einordnen.

Wie verifizieren Sie denn eine solche Online-Quelle und stellen sicher, dass es sich nicht um manipulierte oder einseitige Informationen handelt?
Das kommt sehr auf die Quelle an. Wir können mal ein Beispiel machen: Bei einem Twitter-Profil gibt es erst einmal die Möglichkeit, dass es ein verifizierter Account ist. Das sieht man an dem blauen Häkchen. Dann hat zumindest Twitter schon mal überprüft: Ist das wirklich die Person, die sie vorgibt zu sein? Eine gute Methode ist es auch, bei Twitter-Accounts zu schauen: Ist der von der offiziellen Webseite der Einrichtung verlinkt, also nicht vom Twitter-Account auf die Webseite, sondern von der Webseite auf den Account. Das ist eine ziemlich sichere Methode, weil keine Institution ein Interesse daran hätte, einen Fake-Twitter-Account von der eigenen Webseite zu verlinken, vorausgesetzt es ist die richtige Webseite. Auch das kann man überprüfen, da gibt es hinterlegte „Who-is“-Informationen bei den Registrierungsbehörden. Da gibt es eine ganze Menge Möglichkeiten, Dinge zu überprüfen. Ein guter Trick, der nicht sehr überraschend ist, aber oft vergessen wird: wenn ich unsicher bin, ob das der echte Account von einem Ministerium ist, kann ich auch einfach mal das Ministerium anrufen und fragen.

Wann und wie nutzen Sie in Ihrem Berufsalltag Social Media zur Recherche?
Was sich anbietet, ist bei Facebook in Gruppen oder auch bei Events zu schauen, wer dazu etwas postet. Gerade die Protagonistensuche über Facebook-Gruppen ist eine gute Möglichkeit. Da ist es auch empfehlenswert, sich mit den Administratoren der Gruppe zusammen zu tun. Die können dann einen Post nach oben pinnen, sodass man mehr Erfolg hat. Ich nutze auch Twitter viel, um mich über Gebiete zu informieren, in denen es keine offiziellen Nachrichtenagenturen gibt oder man nicht so schnell an Informationen kommt. Beispielsweise habe ich 2014 sehr viel aus der Ukraine berichtet und da war es so, dass sich im Prinzip eine Art Twitter-Netzwerk von den meistens internationalen Kollegen gebildet hat, die im Osten der Ukraine unterwegs waren und dann ihre Eindrücke geschildert haben. Mit der Zeit kannte man die Kollegen und konnte einschätzen, welche Quellen glaubwürdig sind. Dadurch hat man ein sehr gutes Bild bekommen, was eigentlich gerade in der Region passiert. Das war zumindest damals so. Da konnte keine Nachrichtenagentur mithalten.

Welche Online-Recherche-Tools nutzen Sie in Ihrem Berufsalltag am häufigsten?
Zählen zu Recherche-Tools auch Verifizierungstools? Da würde ich zum Beispiel zur Verifizierung von Bildern und Videos ein Tool sehr empfehlen, das von Amnesty USA zur Verfügung gestellt wird: einen Youtube-Viewer. Der rechnet aus einem Youtube-Video verschiedene Screenshots heraus und diese Screenshots kann man mit einem Klick in die sogenannte umgekehrte Bildersuche geben. Das ist eine Funktion, die es bei Google und anderen Suchmaschinen gibt. Die durchsucht, ob ein Foto irgendwo im Netz schon einmal steht. Das ist ein Standard-Werkzeug, das man bei jedem Video anwenden sollte, um zu überprüfen: Gab es das schon mal irgendwo? Bei jedem größeren Bombenanschlag in der U-Bahn taucht beispielsweise immer wieder ein Video auf, das von einer Explosion in Minsk stammt, die schon ein paar Jahre her ist. Das wird dann aber betitelt mit „Das ist der U-Bahn-Anschlag in Brüssel“ und so weiter. Da ist dieses Amnesty-Tool eine super Möglichkeit. Die umgekehrte Bildersuche generell sollte jeder beherrschen, das ist ein Standard-Instrument. Und dann gibt es natürlich eine Fülle von weiteren Möglichkeiten, Dinge zu recherchieren. Man kann über Personen extrem viel herausfinden.

Einer Studie des Verlags Rommerskirchen und der Hochschule Macromedia ergab, dass rund 57 Prozent der Journalisten glauben, dass sich die Qualität journalistischer Produkte dank der Online-Recherche eher nicht verbessert. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Ich würde da nicht zu den 57 Prozent gehören. Ich könnte mir das nur so erklären, dass die Kollegen daran denken, dass jemand ausschließlich online recherchiert und überhaupt keine anderen Quellen nutzt, nicht mal mit einem Experten noch ein Hintergrundgespräch führt oder mit Kollegen spricht, die tief im Thema sind oder andere Wege nutzt. Dann kann man das vielleicht so interpretieren, weil man natürlich erst einmal filtern muss, was ist an valider Information da und was nicht. Wenn Sie jetzt nur mit Lexika arbeiten würden, was heutzutage wahrscheinlich kaum jemand macht, dann ist das schon durch Bearbeiter gegangen. So könnte ich mir das erklären. Ich denke, man muss verschiedene Recherchemethoden zusammen sehen und wer sich den Möglichkeiten von Online-Recherche und Social-Media-Recherche heutzutage vollständig verschließt, der kriegt manche Themen viel zu spät mit oder bekommt manche Infos überhaupt nicht. Deswegen gehört das heute wie Telefonieren auch dazu.

Gibt es Fälle, in denen Sie trotz allem auf die Offline-Recherche zurückgreifen?
Ich würde sagen, es gibt ständig solche Situationen. Es gibt eher wenige, in denen ich nur online recherchiere. Ich würde sagen, jede Recherche beginnt online und geht dann in andere Bereiche. Ich informiere mich bevor ich zu einer Kurden-Demo gehe online über die Kanäle. Wer dann glaubt, nicht einmal auf die Webseite des Veranstalters oder den Twitter-Account der Polizei gehen zu müssen, das finde ich ist schlechter Journalismus. Wenn jemand das heute noch sagt, dann hat er einfach die zur Verfügung stehenden Quellen nicht genutzt. Ein anderes Beispiel: Die Polizei streamt mittlerweile in Köln ihre Pressekonferenzen über Facebook-Live und manchmal hat man als Journalist nicht die Möglichkeit, zu einer Presskonferenz zu gehen. Dann schaue ich mir die doch abends an. Wenn ich mich aber Facebook verweigere, finde ich die ja gar nicht. Als Journalisten, finde ich, haben wir die Pflicht, alle möglichen Kanäle der Information zu nutzen, entsprechend einzuschätzen und gegenzuchecken und dazu gehören natürlich auch die Online-Wege.

Wie sieht Ihrer Meinung nach die Zukunft der Recherche aus?
Das hängt sehr davon ab, wie sich das Internet weiterentwickelt. Meine Theorie ist, dass wir uns immer mehr zu Plattformen-Internet bewegen. Dass wir also in Zukunft gar nicht mehr in Suchmaschinen gehen, sondern uns nur noch auf Plattformen wie Youtube, in der Apple-Welt oder bei Facebook herumtreiben und dort alle Inhalte sind. Das wäre für uns, für die Recherche, ziemlich schlecht, weil wir die Freiheit der Möglichkeiten auf verschiedenen Webseiten und so weiter verlieren würden und weil Community-Guidelines der Plattformen bestimmte Inhalte gar nicht mehr zulassen würden. Das könnte eine Gefahr sein. Man kann es aber auch positiv sehen: Ich glaube allmählich wird immer mehr eingesehen, dass das Monopol der großen Tech-Giganten ziemlich schlecht ist. Vielleicht wird da ja politisch mal irgendwas gegen getan. Das ist relativ schwierig, weil die multinational unterwegs sind und die Gesetzgebung immer nur national ist. Aber ich habe den Glauben an das Gute in der Politik, dass sie es auch irgendwann schaffen, die Probleme zu lösen. Dann hätten wir vielleicht wieder mehr Konkurrenz zwischen Plattformen. Wir hätten trotzdem ein freies Internet, in dem wir recherchieren können. Bei den Plattformen kann man aber auch etwas Positives sehen, wenn man sich einfach mal die Zukunft ausmalt: da stehen dann Medienartikel drauf und es gibt eine Mischung aus Technik und Redakteuren, die dafür sorgt, dass nur wirklich gute Inhalte auf den Plattformen stehen. Aber da bin ich leider sehr skeptisch, denn die Leute dürstet es im Moment nicht nach guten, sauber recherchierten Inhalten, sondern nach Inhalten, die ihre eigene eigenen Vorurteile und Meinungen bestätigen.