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Wenn die tradierte Medienselbstkritik versagt, springen oft wachsame Laien ein. Sie recherchieren und kommentieren, decken Fehler von Journalisten auf, oft mit großer Sachkenntnis. Wie groß kann ihre Wirkung sein? Wie ernst müssen Journalisten die neuen Medienkritiker nehmen? Julian Beyer glaubt an eine positive Wirkung der wachsamen Laien und plädiert für eine partizipativere Form der Medienregulierung. Sein Text ist ein Auszug aus dem Buch „Meinung Macht Manipulation“, das 2017 im Westend-Verlag erschienen ist.
»Rasender Reporter« hat sich Egon Erwin Kisch einst selbst genannt. Als junger Journalist entlarvte er einen tschechischen General als Spion, und später sagte Kisch: »Der Reporter dient dem Widerstand des Proletariats gegen die ganze Welt.« Seine literarischen und unterhaltsamen Reportagen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelten heute als Wiege für investigativen Journalismus. Damals trafen sie aber nicht jedermanns Geschmack. Der Medienkritiker Karl Kraus schimpfte Kisch einen »Kehrrichtsammler der Tatsachenwelt«. Der reagierte prompt: Kraus lebe noch in der Vergangenheit und bevorzuge den »Federstiel gegenüber der Schreibmaschine« – während bereits ein neues Zeitalter begonnen habe.
Fast hundert Jahre später blicken Medienkritiker in Deutschland wieder einem neuen Zeitalter entgegen: dem digitalen. Heute heißt es nicht Federstiel gegen Schreibmaschine, sondern traditioneller Journalismus gegen Internet, professionelle Medienkritik gegen die Kritik von Nutzern.
Die Berichterstattung der Medien steht heute – wie die von Kisch in den 1920er Jahren – in der Kritik: die heutige Themenauswahl zu sehr in der Werbewirtschaft orientiert, der Journalismus zu einseitig, der Stil zu sensationslüstern. Diese Kritik ist nicht neu, doch sie nimmt zu. 2014 zählte der Deutsche Presserat insgesamt 2009 Beschwerden – ein Rekord, der unverzüglich eingestellt wurde. Ein Jahr später stieg die Zahl der Beschwerden nämlich auf 2 385 an. Die Beschwerdesteller sind in über 90 Prozent der Fälle Privatpersonen.
Neue Kritikkultur
Längst sind es nicht mehr nur die professionellen Journalisten der etablierten Medien, die Kritik an der Arbeit ihrer Kollegen und Arbeitgeber üben. Kritik kommt auch von einer anderen Gattung von Medienkritikern: den wachsamen Laien. Im Internet hat sich in den vergangenen Jahren eine wachsende Schar kritischer Beobachter formiert, die sich deutlich von Schmäh- und Hasskritikern unterscheidet. Wachsame Laien diskutieren aktiv über die Arbeit der Medien etwa zur Ukraine-Krise, zum Germanwings-Absturz oder zur Silvesternacht in Köln. Sie schreiben keine affektgesteuerten Leserkommentare, sondern überprüfen die Fakten durch eigene Recherchen und zerlegen die Argumentation der professionellen Journalisten. Ihre Motivation: eine Debatte anstoßen um qualitativ hochwertigen Journalismus. Vor wenigen Jahren waren es noch einzelne Watchblogs, heute sind es zahlreiche Tweets und Postings in den sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook – verfasst von Nutzern oft ohne journalistische Ausbildung, aber mit erstaunlichem Urteilsvermögen und Fachkenntnissen.
Was ist der Grund für diese neue Kritikkultur? Die Medien haben hier versagt. Die Laienkritik ist eine Reaktion auf die mangelnde Medienkritik des professionellen Journalismus. Lokal- und Regionalblätter setzen schon lange nicht mehr auf Medienjournalismus, und auch die großen Qualitätsmedien lassen nach: Die Wochenzeitung Die ZEIT verzichtet auf ihre Medienseite, der Spiegel hat sein gesamtes Medienressort eingestellt1, in anderen Häusern sind die Medienseiten stark geschrumpft. Gedruckte Medienseiten in Zeitungen sind ein Luxusgut geworden, das sich nur noch die wenigsten leisten (können). Ein elitärer Kreis im Printsektor unter anderen bestehend aus der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bietet seinen Leserinnen und Lesern noch Medienkritik. Im Fernsehen steht die Sendung »ZAPP« als reines Medienmagazin alleine da und läuft seit Jahren nur auf einem späten Sendeplatz im NDR und nicht im Hauptprogramm der ARD. Satiresendungen wie die »heute-show« und »Die Anstalt« im ZDF äußern sich ebenfalls medienkritisch, ihr Hauptfokus liegt aber auf der Unterhaltung. Im Hörfunk sind es ebenfalls lediglich Spartenprogramme wie WDR5, die Medienjournalismus betreiben. Der Medienjournalismus brennt also auf Sparflamme. (…)
Der Blick in die Presse verdeutlicht: Das bisschen Medienkritik, das sich in den etablierten Medien noch finden lässt, ist größtenteils weichgespült. »Niveaulos, charakterlos, schamlos«, urteilt die SZ über die erste Folge des »RTL-Dschungelcamps«. (…) Fernsehkritiken und Geschmacksurteile haben kritische Fragen zur Arbeit der Massenmedien, zur Finanzierung des Journalismus sowie zu den Einflüssen aus Politik, PR und Werbung verdrängt. Dabei wäre genau dies die Aufgabe der Medienkritik.
Die Geschichte eines Rohrbruchs
»Über Bild zu schimpfen fällt allen leicht«, sagt Volker Lilienthal, Professor für Praxis des Qualitätsjournalismus an der Universität Hamburg. »Der deutsche Medienjournalismus ist provinziell«, meint auch Hans-Jürgen Jakobs, der selbst für das „Handelsblatt“ unter anderem über Medienthemen schreibt. (…) Diese Internetkritik ist eine Reaktion auf die mangelnde Selbstreflexion der professionellen Medien in Deutschland. Ist dieser Text werbefinanziert? Liegt der Reportage eine sorgfältige Recherche zugrunde? Ist die Veröffentlichung der Informationen medienrechtlich in Ordnung? Werden Bilder gezeigt, die nach ethischen Grundsätzen nicht hätten veröffentlicht werden dürfen? Die Medienkritik weist auf Fehler innerhalb der Berichterstattung hin und arbeitet Beschwerden auf – und ist somit ein wichtiges Kontrollinstrument des Journalismus.
Ein Kontrollinstrument, an das die professionellen Medien jedoch häufig erinnert werden müssen. Der Denkanstoß kommt dann in der Regel aus dem Internet. Als beispielsweise die ARD im August 2016 in der »Tagesschau« über Wasserknappheit im Westjordanland berichtet, gehen alsbald Kommentare auf der Facebook-Seite des Senders ein. Der erste Vorwurf: Die Bilder des Berichts seien manipuliert worden. Laienkritiker haben nachrecherchiert und argumentieren, dass es in dem Ort einen Wasserrohrbruch gegeben habe und die Filmaufnahmen zum Wassermangel damit zusammenhängen. Der zweite Vorwurf: Bei den gesendeten O-Tönen gebe es ein Ungleichgewicht an Experten, da die israelische Seite nicht hinreichend zu Wort komme. Auf seinem Blog nimmt das ARD-Studio Tel Aviv Stellung zu dieser Kritik. »Als wir gedreht haben, galt der Rohrbruch als repariert«, heißt es dort, und: »Was wir in diesem Zusammenhang aufrichtig bedauern – und künftig anders machen werden – ist, dass wir es versäumt haben, die israelische Seite durch einen eigenen O-Ton zu Wort kommen zu lassen. Grund dafür war, dass wir wegen eines hohen jüdischen Feiertages nicht in einer der angefragten Siedlungen drehen durften und uns auch die angefragten Experten abgesagt haben.«
Mehr als nur „Lügenpresse“ schreien
Es sind oft keine großen Enthüllungen, die die wachsamen Laien Woche für Woche im Netz liefern. Oft sind es nur wenige kritische Fragen, mit denen sie bei den etablierten Medien nachhaken. Doch damit stellen sie eine Transparenz über die Berichterstattung her und halten eine Debatte um Qualitätsmaßstäbe im Journalismus am Laufen, die von Zeitungen, Fernsehsendern und Radioprogrammen seit Jahren vernachlässigt wird. (…)
Damit unterscheiden sich die wachsamen Laien von den virtuellen Wutbürgern, die im Internet eine Vielzahl von Hasskommentaren gegen die »Systemmedien« hinterlassen. Ihr Ziel ist es, in der Anonymität des Webs Medienangebote zu diskreditieren. Anders als die »Lügenpresse«-Rufer sind die neuen Medienkritiker Leser, Zuhörerinnen und Zuschauer, denen die Wichtigkeit der Rolle der Medien für die Gesellschaft bewusst ist. Das zeigt sich deutlich in ihrer Arbeit: Die wachsamen Laien erläutern ihre Beschwerden fundiert und können diese darüber hinaus in vielen Fällen durch selbst durchgeführte Faktenchecks und Rechercheanalysen untermauern. Sie hinterfragen Themenauswahl und Interpretation der Journalisten, überprüfen die durchgeführten Recherchen, rekonstruieren Entstehungsprozesse und unterziehen die Medien einer Ideologiekritik. (…)
Die wachsamen Laien bieten den Massenmedien also das Potenzial, aus einer mittlerweile krankenden Selbstkritik eine Form der partizipativen Medienregulierung zu machen. Die Kontrolle der Presse kann zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe werden. Die Mitglieder
der Zivilgesellschaft vernetzen sich mit den Journalisten der traditionellen Medien und kommunizieren auf verschiedenen Kanälen. Redaktionen können die Kritik der Internetnutzer aufgreifen und auf sie reagieren, indem sie auf die Kritiker und ihre Nutzerkommentare
verlinken. Durch eine solche gemeinschaftliche und transparente Kritikkultur würde sich die Kommunikation zwischen Journalisten und Publikum positiv verändern. Wer in einer so schnelllebigen Phase des Journalismus Fehltritte eingesteht und diese öffentlich thematisiert, dem schenkt man wieder mehr Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Noch prallen die Vorteile, die die neue Medienkritik im Internet ermöglicht, gegen eine Wand. Ein großer Teil der Medien ist weit davon entfernt, kritische Stimmen aus der Bevölkerung zu berücksichtigen und seine Entscheidungen öffentlich zu begründen.
Und das ist der Autor Julian Beyer, Jahrgang 1990, volontierte erst im lokalen Printsektor, bevor er 2012 das Studium der Journalistik in Dortmund und London aufnahm. Seither arbeitet er außerdem als Moderator im Hörfunk und von Veranstaltungen.