Uncategorized

Die Diskussion der Wichtigkeit

Prof. Martin Zierold

Interview mit Martin Zierold, Professor für Kulturmanagement in Hamburg

Herr Zierold, bereits sehr früh haben Sie ein Podcast-Projekt „Wie geht’s? Kultur in Zeiten von Corona“ gestartet, wovon inzwischen über 40 Folgen entstanden sind. Wie geht es denn der Kultur inzwischen?


Prof. Martin Zierold: Es gibt nicht den einen „Patienten Kultur“, der gerade eine Diagnose gestellt bekommen kann. In der Kultur gibt es unterschiedliche Situationen und Gefühlslagen. Trotz der schrittweisen Öffnungen gibt es die Erkenntnis, gerade im Theater- oder Konzertbereich, dass es bis zu einem Normalbetrieb noch sehr lange dauern wird. Die Stimmung an vielen Häusern ist aus meiner Sicht inzwischen oft: Schnell zurück zu dem, was vorher war.

Ist das realistisch?

Ich würde eher fragen, ist das sinnvoll? Ich glaube nicht. Einerseits haben wir es mit einer Reihe großer Institutionen zu tun, die ihre Beharrlichkeit schon in der Vergangenheit bewiesen haben und die wieder viel Energie darauf richten werden, möglichst an den früheren Status Quo heranzukommen. Das wird zu einem „Gut, dass es vorbei ist“, statt einem „Was lernen wir daraus?“ führen. In diesem Sinne glaube ich, dass ein Zurück leider realistisch ist.

Andererseits gibt es auch beweglichere und neugierigere Bereiche, in denen nach der anfänglichen digitalen Euphorie ein Nachdenken einsetzt. Wie wollen wir den digitalen Raum zukünftig bespielen, oder sogar als eigene ästhetische Platform betrachten?

Eine ökonomischer ausgerichtete Diskussion ist zudem die Frage nach Wertschöpfungsmodellen im Netz, gerade nach der Gratiskultur während der anfänglichen Begeisterung: Wie kann für ein künstlerisch produziertes Angebot, für das wir im Theater- oder Konzertsaal viel Geld zu zahlen bereit wären, auch online eine angemessene Zahlungsbereitschaft geschaffen werden?

Das erinnert an die Wertschöpfungsdiskussion des Journalismus im Netz. Auch hier wurden zu Beginn Versäumnisse gemacht – ein nicht zu unterschätzender Aspekt bei der digitalen Transformation.


Ganz genau. Auch der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda hat diese These vertreten. Er fürchtet, dass wir uns irgendwann an die Corona-Zeit erinnern werden, als den Moment in welchem die Chance verpasst wurde, adäquate Bezahlmodelle für die Kultur zu entwickeln. Wenn dem so wäre, stellt sich natürlich auch wieder die Frage, ob die Kultur in Gefahr ist und wie sie sich finanziert.

Wird sich denn die Wahrnehmung auf die Kultur verändern?


Das ist eine spannende Frage. Ausgehend vom alten Satz: „Was nix kost’, is auch nix“, könnte eine düstere Perspektive sein, dass die Wertigkeit von künstlerischen Angeboten zurückgeht. Persönlich würde ich eher eine Gegenthese aufstellen: Zu sagen, Kultur ist so wichtig, sie muss im Netz für jedermann frei sein – im Sinne einer staatlich finanzierten Grundversorgung. Einzig diesen Diskurs sehe ich momentan nicht.

Wie kann es die Kunst denn schaffen, in dieser (politischen) Debatte nicht überhört zu werden?

Die Kunst im Singular gibt es so nicht. Die verschiedenen künstlerischen Felder haben durchaus ihre Lobby-Betriebe, die den Austausch auf Bundes- und Landesebene führen, auch wenn wegen der Lautstärke anderer Lobbyisten, gerade auch während Corona, manchmal der Eindruck entsteht, als würde die Kultur vergessen oder nicht gehört. Ich sorge mich eher darum, dass die Kultur mit der falschen Botschaft gehört wird. „Es gibt uns und es muss uns geben, aber fragt bitte nicht warum, weil schon die Frage nach dem ‚Warum‘ eigentlich ein Affront ist.“ – Diese Argumentation mancher Kulturlobbyisten funktioniert nicht unbegrenzt.

Spätestens nach einer Finanzkrise wird die Debatte folgen, was wir uns noch leisten können und wollen. Dann könnte die Sinnhaftigkeit öffentlicher Kulturförderung nicht von allen in der Bevölkerung gleichermaßen gesehen werden. Zur Zeit lautet die Botschaft der Kultur: „Rettet uns, wir sind systemrelevant!“ Auf einmal heißt es also: wir sind staatstragend. Eigentlich war die Kultur daran lange nicht interessiert. Das ist ein rhetorischer Kurzschluss, oder will man auf einmal doch dieser berühmte „Kitt der Gesellschaft“ sein? Das kann es doch eigentlich nicht sein, trotzdem gibt man sich auf einmal in solche Rhetorik freiwillig hinein. Die intelligenteren Antworten sollten eher lauten, auch ein Stachel, ein Ort der Kritik, ein Ort der Subversion und der Überraschung zu sein.

Ein zweiter wichtiger Punkt ist, die Rhetorik der Kultur-Lobby besser mit der tatsächlichen Praxis der Einrichtungen in Einklang zu bringen. Die behaupteten Werte also viel stärker für möglichst viele Menschen erfahrbar zu machen, statt in Diskussionen immer die eigene Wichtigkeit zu behaupten.

Gerade der Klassikbetrieb ist wenig politisch. Ist das historisch bedingt?

Anstatt historisch zu antworten, hätte ich viel eher eine These zur Gegenwart aus der Perspektive des Kulturmanagements: Wenn einer meiner Studierenden ein Orchester oder Festival mit der Haltung übernehmen würde, Klassik sei eben unpolitisch, würde ich das für ziemlich denkfaul halten. Eine bestimmte Stückauswahl kann zum Beispiel eine gesellschaftspolitische Position beziehen, auch wenn dieser Zugang vorher eine Auseinandersetzung erfordert.

Festivals, die sich die Frage stellen, wie sie klassische Musik präsentieren müssen, damit andere Gruppen Lust haben sich mit ihr auseinanderzusetzen, handeln schon politisch. Sie enttäuschen vielleicht Erwartungen auf der einen Seite, überraschen aber auf der Anderen und führen dabei eine Veränderung der Zuschauerstruktur herbei. Auch das ist ein politischer Gedanke, ohne dass eine bestimmte Ideologie oder Agenda mit ausbuchstabiertem Programm dahintersteckt.

Sie haben Ihre Studierenden angesprochen, was ist denn die Aufgabe von KulturmanagerInnen in diesem Spannungsfeld? Sollten die sich auch politisch positionieren, oder diese Dimension zumindest mitdenken?


Mitdenken auf jeden Fall! Ich möchte nicht, dass alle Kultureinrichtungen sich einer bestimmten politischen Agenda verschreiben und ihr Programm sozusagen aus einer Parteiprogramm-Logik heraus entwickeln. Ebensowenig attraktiv ist es aber auch, sich der Frage seiner gesellschaftlichen Rolle, Werte und Position zu entziehen. Wobei die Frage nach der Definition von Gesellschaft gar nicht leicht zu beantworten ist.

Gibt es beispielsweise Teile der Gesellschaft, die man bewusst ausgrenzen möchte? Ich fand die Position einiger Theaterintendanten, AfD-Wähler nicht im Publikum haben zu wollen, heikel, wobei es Gründe dafür und dagegen gibt. Der eigene Standpunkt, die Rolle in der Stadtgesellschaft oder Region – all das sind politische Fragen, die nicht ausgeklammert werden sollten. Wer diese ausklammert handelt auch politisch –aber leider politisch naiv.

Der unter anderem von Ihnen geprägte Begriff des ‚Cultural Leadership‘ impliziert eine Vorbildfunktion, ein „für etwas stehen“.

Cultural Leadership als Begriff verstehe ich doppeldeutig. Man kann es klein halten und sagen, es gehe darum, Kulturorganisationen zu führen, oder sich fragen, was es eigentlich bedeuten würde, im Großen und Ganzen der Gesellschaft eine kulturelle Führungsrolle zu haben. Das bedeutet dann auch die Entwicklung einer Kultur, nicht nur im engen Sinne, sondern wirklich einer gesellschaftlichen Kultur, etwa einer Diskurs- und Stadtkultur. Deshalb erwarte ich auch von Kulturorganisationen oder der Kreativwirtschaft eine Leadership-Rolle einzunehmen, Orientierung zu bieten und Beteiligung zu schaffen.

Dieses Verständnis ist spannend und notwendig, weil wir uns in einer gesellschaftlichen Umbruchphase befinden. Die Corona-Krise macht dabei viele dieser Transformationsprozesse noch schneller sichtbar. Neben der Orientierung braucht es Orte des gemeinsamen Entwerfens von Zukunft und der gemeinsamen Verständigung darüber, wie wir miteinander leben wollen. Gerade Kulturinstitutionen sind dafür prädestiniert, diese Art von Leadership zu praktizieren. Nicht im Sinne einer diktatorischen, alten Idee von Führung, sondern durchaus im Prinzip eines kollaborativen Führungsverständnisses.

Stehen die hierarchischen Strukturen, zum Beispiel im Musikbetrieb, diesem Fortschritt und diesem „nach vorne denken“ im Weg?

Manche meiner Kollegen vertreten die Meinung, dass sich eine historisch tradierte künstlerische Form, die an bestimmte Produktionsformen geknüpft ist, sich nicht unendlich demokratisieren lässt. Überspitzt gesagt: Oper war immer Diktatur und soll es bleiben. Die Gegenthese sagt, dass die tradierte Form von Führung im Musikbetrieb so hierarchisch und rigide auf eine Person fokussiert gedacht wird, dass sie offenem, wirklich innovativem Denken entgegensteht.

In beidem steckt etwas. Es gibt durchaus Beispiele für Strukturen, in denen dieses „heroische Modell“ in einem bestimmten Kunstkontext funktioniert und man es sich zu leicht macht, dieses einfach zu denunzieren. Es gibt ja durchaus Intendanten alter Schule, in deren Häusern eine künstlerische Praxis stattfindet, die ein Publikum heute nachhaltig bewegt und erreicht. Diese Spannung und Paradoxie muss man erst einmal zur Kenntnis nehmen.

Auf der anderen Ebene gibt es viele Beispiele, wo tatsächlich offenere Produktionsprozesse herrschen, ein dialogischeres Nachdenken darüber, was es heißt, ein solches Haus zu leiten und dabei sowohl große Kunst, als auch eine große Öffnung zur Gesellschaft hin stattfinden kann. Es spielen verschiedene Variablen eine Rolle, welches Modell besser funktioniert: z.B. der Ort, die Vorgeschichte, das Publikum, die Mitarbeitenden.

Es gibt immer mehr Initiativen, wie zum Beispiel das STEGREIF.orchester oder das Ensemble Reflektor, die aus einem demokratischen Antrieb heraus arbeiten und musizieren. Wie wichtig ist demokratisches Denken in der Musik?

Da lohnt der Blick in andere Gesellschaftsfelder, wo es ähnliche Diskussionen gibt. An der Schaubühne Berlin gab es beispielsweise schon in den frühen 1970er Jahren ein demokratisches Führungsmodell  des Mitbestimmungstheaters. Am Leben geblieben ist diese Form aber nicht. Daran merkt man, dass zwischen Grundidee und Umsetzung viele Herausforderungen liegen.

Aus solchen Beispielen können wir viel lernen: Erfahrungen des Scheiterns, oder Erkenntnisse unter welchen Bedingungen es funktionieren kann. Dabei gibt es kein kategoriales Schwarz-Weiß, sondern die Frage, ob das Modell zu einer Organisation, deren Menschen und Umfeld passt. Sollte das der Fall sein, kann man durchaus demokratische Strukturen wagen – aber es erfordert sehr viel Umlernen; einen echten Kulturwandel, der alles andere als trivial ist.

Dass solche Veränderungen Unsicherheit hervorruft, ist nicht neu und wird durch Corona gerade wieder sehr deutlich. Es heißt ja immer wieder, aus Unsicherheit könne etwas Neues entstehen. Braucht es also diese Unsicherheit?

Ja und nein. Die Gefahr dieser Argumentation steckt darin, dass sie den Schluss zulässt, es sei doch wunderbar, dass unsere Künstlerinnen und Künstler alle in prekären Lebenssituationen sind, denn diese seien ja erst die Basis ihrer Kreativität. Das wäre zynisch und falsch, denn es gibt einen Punkt der existenziellen Bedrohung, der nicht mehr konstruktiv ist.

Um es konkret zu machen: Ich bin Beamter an einer deutschen Hochschule. Sicherer als ich, kann man es kaum haben. Dieser Logik folgend würde das bedeuten, ich sei gar nicht in der Lage kreativ zu sein. Umgekehrt kann ich argumentieren, ich habe die Chance aus dieser Sicherheit besonders kreativ zu sein, weil praktisch jedes Risiko vom Sicherheitsnetz meiner Organisation aufgefangen werden kann.

Die spannende Frage ist eigentlich, warum passieren in den Hochschulen oder künstlerischen Einrichtungen unter diesen Bedingungen so wenig kreative Akte? Daran merkt man, dass eine gewisse Unsicherheit doch Erinnerung an das kreative Potenzial bringen kann. Das ist zum Beispiel das, was durch Corona gerade sehr stark passiert: Wir haben einen äußeren Rahmen, der uns daran erinnert, das Potential auch zu nutzen und auf einmal kommt ganz viel in Bewegung. Existenzielle Unsicherheit ist nicht unbedingt eine gute Basis für Kreativität. Ein sicherer Rahmen und eine Haltung von Neugierde und Offenheit können auch sehr viel leisten.

Welche Perspektive stimmt Sie gerade hoffnungsvoll?

Meine große Sorge ist die der Legitimationskrise von Kultur in breiten Teilen der Gesellschaft. Dafür müssen wir nur in einige unserer Nachbarländer schauen. Wir müssen wissen, dass die Kulturförderung in Deutschland ein Gut ist, das alles andere als selbstverständlich ist und das durchaus verloren gehen kann. Diese Gefahr halte ich nicht für abstrakt, sondern für sehr real. Dennoch gibt es Beispiele, die hoffen lassen und  dazu einladen, sich immer wieder neu inspiriert, motiviert, begeistert und neugierig auf die Frage einzulassen, warum es uns in der Kultur eigentlich gibt.

Wenn man dem Wunsch nach Öffnung und Zugänglichkeit Zeit und Ressourcen gibt, wird das für unterschiedlichste Menschen ein Universum öffnen. Das wird passieren und deswegen glaube ich auch, dass wir tatsächlich einen Schritt gemacht haben, eine neue Antwort auf die Frage zu finden, warum Kultur Menschen- und Lebensrecht sein sollte und warum wir uns das in Deutschland leisten wollen. Es braucht diese neuen Antworten, nicht nur rhetorisch, sondern erleb- und erfahrbar. Meine Hoffnung ist, dass das am Ende gelingt.

Was wird sich denn in der Kultur, speziell durch Corona, verändern?

Das ist eine Frage der Zeithorizonte. Nach den Kontaktsperren glaube ich nicht, dass sich schon massiv etwas verändert hat. Schauen wir zwei oder drei Jahre nach vorne, werden wir wahrscheinlich noch in der von mir angesprochenen Diskussion um Finanzierung, Aufgabe und Zielgruppen stecken – Ausgang offen.

Vorstellen kann ich mir ein düsteres Szenario mit einem Rückgang der Kulturförderung: Was man in kurzer Zeit spart, kann auch in langer Zeit nur schwer wieder aufgebaut werden. Meine Hoffnung ist aber eine noch breitere, institutionsreichere, vielfältigere und unmittelbarere Kulturlandschaft. Ich halte beides für möglich, das hängt von unser aller Entscheidungen ab.

Was würden Sie sich ganz konkret wünschen?

Aus der Rolle des Hochschullehrers habe ich einen Wunsch, den ich für relativ realistisch halte: Ich wünsche mir von meinen Studierenden, dass sie die Aufgabe annehmen, die vielleicht die Führungsgeneration vor ihnen noch nicht so beherzt angenommen, oder jedenfalls noch nicht zu Ende gebracht hat: Sich dieser Neubestimmung der Frage von Kultur und Gesellschaft anzunehmen. Das nehme ich auch teilweise schon wahr, deshalb ist es meine Hoffnung und mein Wunsch, dass dies gelingt