Mitte März – der Lockdown. Binnen weniger Tage der absolute Stillstand. An Produktionsbändern, auf den Straßen, keine Containerschiffe, die die Weltmeere überqueren, keine Flugzeuge, die im Minutentakt von den Drehkreuzen der Metropolen abheben. Schlagbäume, die europäische Landesgrenzen wieder spürbar machen. Firmen, Unternehmen, Geschäfte, Restaurants und Imbisse – geschlossen. Dafür aber der Kampf um Klopapier und Nudeln im Supermarkt, wochenlange Kinderbetreuung vereint mit Homeoffice, zwischen Mittagessenkochen und Wäschewaschen, Kurzarbeit, Entlassungen. Dann: fallende Aktienkurse – so wie zuletzt während der Finanzkrise. Stillstand. Überforderung. Existenzängste. Wie soll es weitergehen? Und wer überlebt? Nicht nur medizinisch, sondern auch wirtschaftlich? Nicht nur in Deutschland oder den europäischen Nachbarländern, sondern weltweit.
Was sich wie die Apokalypse in einem schlechten Zombie-Film liest, war und ist immer noch Realität. Das Corona-Virus hat uns im Griff – die Menschheit. Nicht ohne Grund sprechen wir von einer Pandemie. Wie der Philosoph Markus Gabriel anmerkt, eine altgriechische Bezeichnung für „das ganze Volk“. Vor dem Virus sind wir alle gleich. Ob arm, ob reich, ob schwarz, ob weiß, ob mächtig oder nicht. Plötzlich sind wir gemeinschaftlich bedroht. Und dieses offenbart– wie Markus Gabriel in einem seiner Interviews sagt – die Systemschwächen der herrschenden Ideologie des 21. Jahrhunderts. Und diese ist vor allem in der westlichen Welt durch den Kapitalismus geprägt. Zeit, diesen noch einmal kritisch zu betrachten.
Externe Effekte – Bedrohung des kapitalistischen Systems
Wirtschaftswissenschaftlich gesehen, fällt eine Pandemie unter die externen Effekte. Effekte, die nicht von den Akteur*innen auf den Märkten beeinflussbar sind. Die Eintrittswahrscheinlichkeit ist kaum zu ermitteln. Und genau diese externen Effekte bedrohen die Marktmechanismen, die den Kapitalismus ausmachen. Und sie nehmen zu.
Die Pandemie ist – so wie es viele Wissenschaftler*innen darstellen – sehr wahrscheinlich die Folge einer Zoonose und damit das Resultat des Eingreifens der Menschheit in die Natur. So wie damals auch schon bei Ebola. Und was kommt nach COVID-19? Eine Angst, die unsere Gesellschaften gerade akut bestimmt.
Gleichzeit bedroht uns noch eine viel größere Katastrophe: die Klimakrise. Ein externer Effekt, der sich mit und mit verstärkt und unser Wirtschaften und Leben nachhaltig bestimmen wird. Allerdings entsteht der Eindruck, dass dem Klimawandel zwar seitens der jungen Bevölkerung die angemessene Dringlichkeit verliehen, darüber hinaus aber eher noch verdrängt wird.
Ergänzend zu den externen Effekten, die aus der durch den Menschen geschädigten Natur und Umwelt entstehen, droht aber auch noch der externe Effekt, der aus der Gesellschaft heraus provoziert wird. Schaut man aktuell nur in die Vereinigten Staaten, wird deutlich, dass extreme Ungleichheit zwischen Bevölkerungsgruppen zu Unruhen führen können, die Systeme im Kern lahmlegen. Zusätzlich zur Corona-Krise wird das Leben in den amerikanischen Städten durch die Black Lives Matter Proteste und den darüber hinaus gewaltsamen Ausbrüchen beherrscht.
Alle externen Effekte vereint, dass sie Wirtschaft und kapitalistische Systeme bedrohen können, paradoxerweise aber auch durch die selbigen geschaffen werden und wurden. Ausgelöst durch das kapitalistische Streben nach unendlichem Wachstum.
Aber kann ein Wachstum auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen überhaupt unendlich sein? Der Ökonom Dennis Meadows warnt schon in den 1970er Jahren in seiner Studie im Auftrag des Club of Rome davor. Damals schon zeichnete der Wissenschaftler ein besorgniserregendes Bild von der Welt, die uns nun in 30 Jahren, also 2050, erwarten soll. Durch die Corona-Krisen haben wir gelernt, wie unmittelbar doch unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben bedroht werden kann – und das Vorsorge doch besser als Nachsorge ist. Auch für das langfristig gesicherte Wirtschaften, welches einerseits Gewinne und Umsatz erzielt, andererseits auch Arbeitsplätze und Sicherheit für die Bevölkerung bietet. Aber wie wird sich unsere Welt verändern, wenn diese akuten Bedrohungen zunehmen? Fest steht: Wir haben keine Zeit mehr! Der Kapitalismus muss zukunftssicher und nachhaltig gemacht werden.
Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung
Gerade in dieser Zeit werden Kapitalismuskritiker*innen wieder lauter. Hat uns das Wirtschaften nach kapitalistischen Prinzipien nicht erst dieses Ausmaß der Krise eingehandelt? Kritisch muss man in jedem Fall mit dem System umgehen. Aber eins vorweg: Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung, wie die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Hermann in ihrem Buch schreibt. Es geht vielmehr darum, diesen zu zähmen. Erstens, weil uns – wie der Soziologe Wolfgang Streek deutlich macht – über Jahrhunderte der Kapitalismus anerzogen wurde und es im Wettlauf mit dem Klimawandel keine Zeit für eine grundlegende Änderung gibt.
Und zweitens, weil Demokratie und Kapitalismus eine Art Wechselspiel darstellen. Sie können nicht mit und sie können nicht ohneeinander. Demokratische Systeme schaffen ein sicheres Umfeld für Märkte und Kapitalismus ist der Motor für Technologien, Innovation, Streben nach Verbesserung, was wiederum demokratische Gesellschaftsstrukturen und dessen Zukunft sichern kann. Allerdings darf dieses ausgeglichene Verhältnis zwischen den Systemen niemals außer Kontrolle geraten. Und genau das können wir gerade beobachten.
System außer Kontrolle
Zieht man als Grundlage die Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann heran – welche das System der Gesellschaft in verschiedene Subsysteme unterteilt – ist zu erkennen, dass das Teilsystem der Wirtschaft mittlerweile mächtiger als die anderen Subsysteme ist, gar die anderen zum Teil bestimmt. So ist seit Jahren zu beobachten, dass nicht mehr die Politik – also die demokratisch gewählten Vertreter*innen des Volkes – die Souveränität ausübt. Die Folge: Oftmals ist Politik nicht mehr Impulsgeber, und die Wirtschaft muss sich anpassen, sondern umgekehrt. Durch die zu große Macht der Wirtschaft kann Politik nur noch reagieren. Exemplarisch dafür ist die Automobilindustrie oder auch viele Tech-Firmen, die durch Staatsmittel und Forschungsgelder ihre Marktposition erst erlangen konnten und jetzt aufgrund ihrer großen Macht politische Entscheidungen beeinflussen können. Über allem schwebt die Drohung, sich gegen einen Unternehmensstandort zu entschieden und abzuwandern.
Aber genau das bedroht Demokratie. Demokratie bedeutet – sehr verkürzt ausgedrückt – dass alle Menschen in einem Staat dieselben Rechte haben – unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Bildung oder ihres Vermögens. Aber der genannte Lobbyismus zeigt, dass mächtige Akteur*innen mehr Einfluss auf politische Entscheidungen haben als Bürger*innen, die beispielsweise zwar in systemrelevanten Berufen arbeiten, aber nicht dieselbe Einflussnahme innehaben wie CEOs, Manger*innen und andere hohe Vertreter*innen der Verbände und Unternehmen. Das System gerät außer Kontrolle.
Damit geht auch die Konzentration des Kapitals auf eine Minderheit der Weltbevölkerung einher, wie Ökonom Thomas Pikkety kritisiert. Der Kapitalismus hat mittlerweile die Ausmaße erreicht, dass r > g gilt. Also die Kapitalrendite stärker wächst als die Gesamtwirtschaft. Wer Kapital hat oder erbt, wird immer reicher – wer hart arbeitet, kann nicht mehr reich werden. Die Folge: Die berühmte Schere zwischen Arm und Reich wird immer weiter auseinanderklaffen.
Manche Ökonomen wie auch Branko Milanović sprechen von einer Verdrängung der Mittelschicht. Paradoxerweise gilt gerade aber in der Corona-Krise, dass nicht der reiche und mächtige Teil der Bevölkerung das gesellschaftliche Leben sichert, sondern diejenigen, die im klassischen Sinne nicht zu den Kapitalbesitzer*innen zählen: zum Beispiel Pflegekräfte, Supermarktmitarbeiter*innen und Rettungskräfte. Diejenigen die häufig um mehr Bezahlung, bessere Arbeitsbedingungen und Anerkennung kämpfen.
Umso länger man über diese ungerechte Rollenverteilung in der Gesellschaft nachdenkt, desto ohnmächtiger wird das Gefühl. Eine sarkastische Pointe der Entwicklung des Hyperkapitalismus und zudem eine akute Bedrohung für unsere Demokratie. Um nur wenige mögliche Folgen dieser Ohnmacht zu nennen: mehr Zustimmung für Populist*innen, mehr Zuflucht in Verschwörungserzählungen, mehr Demokratieverdruss, weniger Wahlbeteiligung, weniger Diskurs und folglich ein schwacher Gegenpol, der sich meinungsstark gegen die Auswüchse des Kapitalismus und dessen Vertreter*innen einsetzen kann.
Nachfrage gleich Angebot? Bitte neu denken!
Und genau diese argumentieren häufig auf der Grundlage der neoklassischen Theorien. Die Markwirtschaft ist demnach ein System, welches ohne Eingriffe funktioniert, da die Gesetzmäßigkeit des Marktes dieses reguliert. Dahinter steht immer das Streben nach Gewinnmaximierung. In der letzten Woche wurden die markttheoretischen Gesetze aber außer Kraft gesetzt. Ohne die Eingriffe und Hilfen des Staates könnten viele Wirtschaftsbereiche nicht überleben.
Hinterfragt man die neoklassischen Theorien, ist anzumerken, dass erstens in westlichen Staaten keine extremen Wachstumsraten – auf dem der Kapitalismus unter anderem aufbaut – mehr zu erwarten sind und zweitens das oberste Gebot der Marktwirtschaft Nachfrage gleich Angebot nicht mehr erfüllt ist.
Erstens muss dringend die Frage gestellt werden, ob die neoklassischen Theorien wirklich zur Beurteilung des heutigen Kapitalismus ausreichen. Sollte Wachstum vielleicht nicht nur monetär betrachtet werden, sondern auch ressourcenschonend, nachhaltig und zukunftssicher? Auch hier brauchen wir zwingend Wachstumsraten. Dass wir heute extreme monetäre Gewinne machen können, um weiter zu wachsen, kann in einigen Jahren schon bedeuten, dass wir aufgrund der externen Effekte unsere Märkte zerstört werden und wir nicht mehr wirtschaften können.
Aktuell kann man bereits Ansätze beobachten: Nicht der Staat hat den Lockdown für Konzerne wie VW oder BMW bestimmt, sondern sie mussten die Produktionen eigenständig runterfahren. Beispielsweise weil Zulieferer aus Italien, Spanien oder Frankreich nicht mehr ihre Waren importieren konnten. In diesem Fall verdeutlicht die Corona-Krise die Dringlichkeit, die Gefahr der externen Effekte zu reduzieren – auch im Eigeninteresse der Konzerne.
Und zweitens: Die Nachfrage nach umwelt- und ressourcenschonenden Produkten und zukunftssicheren Technologien oder Innovationen ist aktuell so groß wie noch nie. Allerdings wird diese Nachfrage nicht bedient, da die Umstellung zu viele Kosten verursacht. Zudem muss man dringend die Frage stellen, ob die reale Nachfrage nach Produkten auf dem Markt nicht auch immer durch das gegebene Angebot bestimmt wird – aber das ist ein neues Feld. Fest steht: Die Politik muss dringend eingreifen!
Politik muss eingreifen!
Die Corona-Krise können wir als eine Art Wegscheide betrachten. In den letzten Monaten ist uns bewusst geworden, wie schnell unser System ins Wanken gerät. Und diese Erfahrung darf auf keinen Fall in Vergessenheit geraten. Vielmehr müssen wir aus der Not eine Tugend machen, wie Juso-Chef Kevin Kühnert im folgenden Interview sagt. Im Fokus dessen sollten vor allem drei Ziele stehen:
Ziel I: Ressourcen schützen
Endliche Ressourcen, unsere Umwelt und unser Planet müssen geschützt werden, damit externe Effekte nicht in ein paar Jahren außer Kontrolle geraten. Im Gegensatz zum Corona-Virus, an dem Wissenschaftler*innen gerade mit Hochdruck forschen, können umweltbedingte Bedrohungen bald nicht mehr aufhaltbar sein. Und das muss uns bewusst sein – auf internationaler Ebene und nicht nur national. Umweltschädliche Produktionen müssen deutlich teuer werden, sodass ein umweltfreundliches Handeln günstiger und belohnt wird.
Ziel II: Ungleichheit abbauen
Im Zuge dessen muss Ungleichheit reduziert werden. Es kann nicht sein, dass eine Minderheit so viel reicher ist als die Mehrheit der Weltbevölkerung. Diese Entwicklung ähnelt einem Pulverfass. Es muss eine Umverteilung stattfinden, damit dieses Fass nicht explodiert. Die Einnahmen der exponentiell wachsende Kapitalrenditen müssen für die Umstellung auf umweltfreundliche Produktionen, Forschung und Entwicklung für beispielsweise neue Impfstoffe oder zukunftssicheren Technologien genutzt werden, damit nicht die „normale“ Bevölkerung diese Kosten allein tragen muss. Erbschaftssteuer, Vermeidung von Steuerschlupflöchern und eine höhere Kapitaleinkommensteuer sind da als politisches Instrument zwingend notwendig. Wie der Philosoph Adam Smith bereits im 18. Jahrhundert sagte: Keiner handelt nach der eigenen Güte, sondern nach eigenem Interesse.
Ziel III: Grundsicherung durch die Staaten
Um diese Märkte und unsere demokratische Gesellschaft krisensicher zu machen, darf der Staat überlebenswichtige Branchen nicht der freien Marktwirtschaft überlassen. Mehr noch: Bestimmten Bereichen dürfen gar nicht nach kapitalistischen Marktprinzipien agieren. Beispielsweise Universitäten, die immer für Fortschritt und Zukunft stehen, Bereiche, die unsere Infrastruktur sichern und vor allem auch das Gesundheitswesen. Wie der Intensivpfleger Alexander Jorde im folgenden Interview berichtet, darf es in diesem Bereich nicht um Profit gehen, wenn wir über die Anzahl der Krankenbetten, Pflegekräfte, Medikamentenproduktion und Beschaffung von Schutzausrüstung sprechen.
Schafft Allianzen!
Die externen Effekte, dessen Auswirkung wir jetzt durch die Corona-Krise erstmals bewusst wahrgenommen haben, haben mittlerweile solch ein Ausmaß erreicht, dass sie nicht mehr nur auf nationaler Ebene eindämmbar sind. Deswegen zum Abschluss der dringende Apell: Schafft noch stärker wirtschaftliche und ökologische Allianzen – arbeitet endlich zusammen. Vor allem in Europa. Gegen die Populisten der anderen großen Staaten. Macht euch frei von national getriebenen Interessen. Denkt grenzenlos. Denn Viren und auch der Klimawandel kennen keine Staatsgrenzen. Ein Interesse vereint uns doch alle: Wir, eure Kinder und Enkelkinder, wollen auch noch in Zukunft in einer sicheren Demokratie leben und Krisen gemeinsam meistern. Und das ist nur mit einem gezähmten Kapitalismus möglich.
Die Interviews zum Beitrag
„Keine staatlichen Hilfen ohne Gegenleistung.“
Juso-Chef Kevin Kühnert spricht über die Wirtschaft während der Corona-Pandemie und politische Eingriffe in die Marktwirtschaft
„Corona war nur on top!”
Intensivpfleger Alexander Jorde spricht über die Arbeitsbedingungen von Krankenpfleger*innen vor, während und nach der Corona-Pandemie