Interviews Umdenken

„Die Bürgerinnen und Bürger wollen mehr“

Alexander Trennheuser - Foto: Lucas Rosenthal

Interview mit Alexander Trennheuser, Bundesvorsitzender von „Mehr Demokratie“

Alexander Trennheuser ist Bundesvorsitzender von „Mehr Demokratie“. Der Verein setzt sich seit Jahren für mehr Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie auf Bundesebene ein. Im Interview erzählt er, wie Bürgerinnen und Bürger besser in die Entscheidungen zu den Corona-Maßnahmen hätten integriert werden können und was die Politik aus der Krise lernen sollte.

Herr Trennheuser, reicht es aus, alle vier Jahre ein Kreuzchen auf dem Wahlzettel zu machen oder wollen Bürgerinnen und Bürger mehr an politischen Entscheidungsprozessen teilhaben?


Alexander Trennheuser: Die Bürgerinnen und Bürger wollen mehr! Ein guter Teil meiner Arbeit besteht ja in der Beratung von Initiativen. Jeden Tag begegnen mir in dieser Beratung kommunale Bürgerbegehren oder auch landesweite Initiativen, die direktdemokratische Prozesse anstoßen wollen. Und dort erlebe ich: Da sind Menschen, die sich politisch beteiligen wollen, die aber keine Lust oder keine Zeit haben, sich parteipolitisch über Jahre und Jahrzehnte zu engagieren und damit zu binden.

Diese Menschen haben ein bestimmtes Thema und das wollen sie durchkämpfen. Und genau diese Menschen suchen in anderen Formaten, zum Beispiel in Abstimmungen oder in anderen Formen der Bürgerbeteiligung eine Möglichkeit, sich politisch zu engagieren. Unsere repräsentative Demokratie ist also insofern in der Krise, als dass die Mitarbeit und die Mitgliederzahlen von politischen Parteien in den letzten 20 Jahren massiv eingebrochen sind. Wenn ein politisches System eben vor allen Dingen darauf beruht, dass man sich in politischen Parteien engagiert, dann ist das schon ein Problem.

Und wie lautet die Lösung des Problems? Bürgerinnen und Bürger, die eher beraten oder tatsächlich abstimmen?


Wir von „Mehr Demokratie“ glauben sogar, dass man das ganz gut miteinander verknüpfen kann. Irland ist hier ein gutes Beispiel. Dort hat man bei einer ganzen Reihe von gesellschaftlich schwierigen Fragen erst ein Beteiligungsverfahren organisiert, in diesem Fall einen Bürgerrat, und zum Beispiel zufällig ausgeloste Bürgerinnen und Bürger über die Frage des Abtreibungsrechts diskutieren lassen. Dann kann man, nachdem es wirklich gründlich ausdiskutiert wurde, öffentlich wahrgenommen wurde und sich auch die Öffentlichkeit in der Diskussion beteiligt hat, diese Frage zum Referendum, also zur Abstimmung bringen. Auch in Frankreich gibt es derzeit einen Bürgerrat, der über den Klimaschutz und die Frage, welche Maßnahmen eigentlich vernünftig sind, diskutiert. Macron hat zumindest in Aussicht gestellt, dass es über diese Frage ein Referendum geben könnte. Da haben wir diese Verbindung von dem Instrument der Bürgerbeteiligung eher beratender Natur und dann am Ende von direkter Demokratie.

Wie weit ist Deutschland im Vergleich?


In Deutschland sind wir soweit noch nicht, vor allen Dingen, weil es uns eben an der direkten Demokratie auf Bundesebene fehlt. Wir von „Mehr Demokratie“ sind aber stolz, dass wir den ersten bundesweiten Bürgerrat organisiert haben letztes Jahr. Weitere werden hoffentlich folgen.

Wie wären Entscheidungen über den Lockdown getroffen worden, hätte es solche Instrumente auf Bundesebene gegeben?


Es hätte am Anfang erst mal keinen Unterschied gemacht. Weil die direkte Demokratie, so wie wir sie uns wünschen, langsam ist. Sie ist in ihrer Geschwindigkeit, wie Entscheidungen getroffen werden können, nicht mit Parlamentarismus zu vergleichen, denn Parlamente können – und das muss auch so sein – innerhalb von wenigen Tagen, wenn es nötig ist, zu Entscheidungen kommen. Die direkte Demokratie braucht eine gesellschaftliche Debatte, für die man sich Zeit nehmen muss und das sollte man auch nicht abkürzen, einfach um wirklich zu guten Ergebnissen zu kommen.

Trotzdem gibt es eine indirekte Wirkung von direkter Demokratie. Die Schweizer, die ja sehr regelmäßig über Gesetze abstimmen, sagen immer: Ein Gesetz muss referendumsfest sein. Das heißt, politische Entscheidungsträger haben immer im Hinterkopf, es könnte sein, dass unser Gesetz zum Volk kommt. Ich glaube, wenn es in Deutschland bundesweite Volksabstimmungen gegeben hätte, wäre es überhaupt keine Frage gewesen, ob man die Verordnungen und Gesetze zu Corona befristen muss oder nicht. Sondern die wären ganz automatisch befristet worden, da bin ich mir ziemlich sicher.

Gab es denn für Bürgerinnen und Bürger trotzdem die Möglichkeit, sich während der Krise einzubringen? Durch den Lockdown war man ja auf digitale Möglichkeiten beschränkt.


Ich habe das ehrlich gesagt nicht gesehen. Ich muss ja sagen, dass dieses Corona-Geschehen wirklich eine sehr schnelle Zeit gewesen ist, was die politischen Entwicklungen anging. Aber ganz am Anfang kam es mir wirklich so vor, als wäre der gesamte zivilgesellschaftliche Teil unserer Demokratie völlig abgeschnitten, völlig aufs Internet verlagert. Demokratie ist Parlamentarismus, aber eben nicht nur Parlamentarismus. Es braucht die Zivilgesellschaft, es braucht Bürgerinnen und Bürger, und die haben in dieser ganzen Debatte eine absolut untergeordnete Rolle gespielt. Dabei ist doch eigentlich jetzt genau die richtige Zeit, in der sich jede Bürgerin und jeder Bürger sinnvoll und gut beteiligen könnte.

Wie sähe diese Beteiligung aus?


Denken wir nur mal an diese Beratungsgremien, die zum Beispiel Herrn Laschet beraten. Da sitzen mehr Männer drin, die Thomas heißen, als Frauen. Und genau das verhindert eine gut ausgestaltete Bürgerbeteiligung. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass man diese Beratungsgremien ergänzt durch zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger, die einen Querschnitt unserer Gesellschaft darstellen. Dadurch sorgt man einfach dafür, dass bestimmte Meinungen nicht unter den Tisch fallen, sondern wirklich ein bestimmtes Abbild in diesen Diskussionen stattfindet.

Da sehe ich wirklich eine große Lücke. Die meisten, die in diesen Gremien sitzen, sind jenseits der 60, haben die Kindererziehung lange hinter sich. Mich wundert das nicht, dass die Frage, wann Kindergärten wieder aufmachen, in dieser ganzen Debatte eine ziemlich untergeordnete Rolle gespielt hat. Das liegt einfach daran, dass die Menschen, die in den Gremien sitzen, dieses Problem nicht mehr so richtig haben.

Wie glauben Sie wird sich unsere Demokratie nach der Krise verändern?


Ich finde es ziemlich wichtig, dass wir diese Zeit reflektieren. Dass wir uns jetzt schon darauf einigen, dass sich der Deutsche Bundestag und die anderen Parlamente und auch Stadträte in einer absehbaren Zeit zusammensetzen und evaluieren, was da eigentlich entschieden worden ist, in welcher Geschwindigkeit das passiert ist und ob das angemessen war. Und ich fände es auch richtig, dass sich da Bürgerinnen und Bürger beteiligen – da wäre der Bürgerrat genau das richtige Mittel, um möglichst die gesamte Gesellschaft abzubilden und mal zu evaluieren, wie das Krisenmanagement gelaufen ist. Vielleicht auch, was uns da eigentlich gefehlt hat, um dieser Krise adäquat zu begegnen.

Denken Sie da an etwas Bestimmtes?


An grundsätzliche Fragen. Dass wir uns zum Beispiel auf globale Lieferketten verlassen in so einer Katastrophe, wo es wirklich innerhalb von wenigen Tagen eigentlich nötig wäre, eine Milliarde Masken irgendwo aus dem Lager zu holen. Ich will dieses Virus nicht kleinreden, aber es hätte uns auch noch viel schlimmer erwischen können. Und in einer Krisensituation keine Masken zur Verfügung zu haben, vielleicht nicht ausreichend Beatmungsgeräte zur Verfügung zu haben und wegen des globalen Handels überhaupt keine Möglichkeiten zu haben, dranzukommen, weil wir es nicht mehr selbst produzieren können – das ist ein Riesenproblem.

Oder auch die Frage: Sind unsere Krankenhäuser ausreichend ausgestattet in solchen Situationen? Ist es eigentlich vernünftig, dass wir davor noch darüber geredet haben, kommunale Krankenhäuser zu reduzieren? Das sind wirklich wichtige Fragen, die wir uns in einem solchen Bürgerrat anschauen sollten. Wenn diese Diskussion nur im Deutschen Bundestag geführt wird, sitzen da Fraktionen, die an irgendeiner Gesetzgebung mitgewirkt haben und deswegen auch ein Stück weit für diese Situation verantwortlich sind.

Brauchen wir eine Demokratiereform?


Wir brauchen auch auf jeden Fall eine Demokratiereform. Was wir vor allen Dingen brauchen, ist der nächste große Schritt: Das ist eben die direkte Demokratie auf Bundesebene. Wir haben in Deutschland in den letzten 30 Jahren zunehmend Erfahrungen mit direkter Demokratie gesammelt. Die Leute haben ein Stück weit schon gelernt, wie man mit diesen Verfahren umgehen kann, und gehen auch in 99,9 Prozent der Fälle seriös damit um. Der nächste Schritt wäre, sich auf Bundesebene zu trauen. Wir wären in Europa nicht allein damit. Wir sind sogar das einzige Land in Europa, das noch keine bundesweite Abstimmung erlebt hat. Also sind wir ziemliche Nachzügler. Italien, Slowenien, Frankreich, die Niederlande – alle kennen direkte Demokratie auch auf Bundesebene.

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