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Immer mehr Fußballvereine setzen auf neue Daten und probieren so mehr Erkenntnisse aus den Spielen und Trainings zu ziehen. Trotzdem steht die Bundesliga in dieser Entwicklung noch sehr weit am Anfang, sagt der Sportwissenschaftler Daniel Memmert.
Herr Memmert, für viele gilt Fußball noch als einfaches und simples Spiel. Was sagen Sie als Sportwissenschaftler, der sich tiefgehend mit Daten rund um den Fußball beschäftigt, dazu?
Memmert: Einerseits ist das Spiel natürlich in gewisser Weise einfach: Wer die meisten Tore schießt, der gewinnt das Spiel. Auf der anderen Seite ist es tatsächlich so, dass das Erzielen von Toren oft Glückssache ist. Aus Studien wissen wir, dass insgesamt 40 Prozent der Tore glücklich entstehen. Es sind also nur 60 Prozent beeinflussbar. Dieser Bereich ist dann natürlich extrem komplex. Also wenn es um die Frage geht: Wie schaffe ich es diese 60 Prozent zu meinen Gunsten zu beeinflussen?
Dabei gilt es im Training verschiedene Faktoren wie Taktik, Technik, Teambuilding und auch konditionelle Aspekte zu verbessern. Aber es geht auch darum zu schauen, welche Informationen ich aus Spielen der gegnerischen Mannschaften erschließen kann, um dann beim Aufeinandertreffen einen Vorteil zu haben. Diese Bereiche sind natürlich komplex zu erarbeiten. Deshalb gibt es bei Vereinen inzwischen große Trainerteams mit Spezialisten, denn eine Person alleine kann diese ganzen Kompetenzen gar nicht mehr haben.
Ihr Buch hat die „Revolution im Profifußball“ durch Daten schon im Titel. Der US-Sport ist schon sehr weit fortgeschritten in diesem Bereich. Wie weit sehen Sie die Datenrevolution in der Fußball-Bundesliga vorangeschritten?
Wir stehen noch ganz am Anfang. Das muss man so ganz klar sagen. Vor allem, wenn man es auf Big Data bezieht. Mit Big Data meine ich die Positionsdaten, also die X- und Y-Koordinaten des Spielers und des Balles auf dem Spielfeld. Da ist es ab dieser Saison so, dass man diese Daten online während eines Spiels live einsetzen darf. Es gibt da aber noch viele Bereiche, in denen die Bundesliga noch wenig drauf zu greift. Außerdem müssen wir noch wirklich nachweisen, dass die Erhebung von Positionsdaten einen signifikanten Mehrwert ergibt zu den traditionellen Analysen.
„Positionsdaten taktisch veredeln“
In welchen Bereichen hat die Bundesliga noch besonders Nachholbedarf?
Gerade die Positionsdaten werden zu wenig verwendet. Es wird langsam schon mehr mit Laufdaten gearbeitet, also mit den Werten rund um Sprints und Beschleunigung. Aber in taktischer Hinsicht gibt es da noch viel Potenzial. Es gilt dabei vor allem die Spielanalysten so auszubilden, dass sie mit den Positionsdaten arbeiten können, und wissen, wie man diese Tools einsetzen kann, um die Positionsdaten in taktischer Hinsicht zu veredeln.
Diskussion über „Laptoptrainer“
Während eines Spiels werden zahlreiche Daten erhoben. Wie finde ich in diesem Datenberg die Daten, die wirklich wichtig für das Spiel und dessen Ausgang sind?
Es werden während eines Fußballspiels sowohl einfache als auch komplexe Metriken erhoben. Dabei hat unsere Forschung ergeben, dass gerade die komplexen Metriken zwischen Gewinner und Verlierer unterscheiden können. In einem Projekt mit der Deutschen Fußball-Liga konnten wir drei Variablen herausarbeiten, die bei Gewinner-Teams deutlich ausgeprägter waren, als bei den Verlierern: Raumkontrolle, Passeffizient und Pressing.
Fußball gilt als emotionaler Sport, zu dem jeder eine Meinung hat. Vergangene Saison gab es die Diskussion über „Laptoptrainer“, was als eher negativ konnotierter Begriff gilt für Coaches, die sich viel mit Daten auseinandersetzen. Spüren Sie manchmal eine Art „Kampf gegen die Verwissenschaftlichung“ des Fußballs?
Diese Diskussion gab es und gibt es immer noch. Aber dieser Kampf wird auch vor allem durch die Medien aufgebauscht. Die Bundesliga-Vereine gehen mit diesem Thema extrem sachlich und aufgeräumt um. In dem Bereich sind in den Vereinen viele junge Leute aktiv und gehen das sehr nüchtern an und wissen die Vorteile, die sie aus der Analyse ziehen können, zu schätzen. Deswegen ist das kein echter Kampf. Wenn dann ist es eine Art Generationenkampf, aber auch viele erfahrene Trainer setzen auf Daten und Spielanalysen. Ich denke, die Diskussion hat sich intern etwas überholt und wird teilweise von den Medien in der Öffentlichkeit immer wieder befeuert.
Fokus auf klassische Daten
In der typischen Fernsehberichterstattung beschränken sich die Sender bei ihren Analysen noch häufig auf die einfachen und klassischen Daten, wie Ballbesitz, Torschüsse und Zweikampfquoten. Würden Sie sich manchmal wünschen, dass die Berichterstattung in Deutschland mehr auf die komplexeren Metriken eingeht?
Das würde ich mir wirklich wünschen. Es ist tatsächlich so, dass ich schon enttäuscht bin, wenn zum Beispiel Heatmaps (Anm. d. Red.: Diagramm zur Darstellung der Positionen, die ein Spieler während des Spiels besetzt hat) zur Analyse genutzt werden, mit denen man gar nichts wirklich anfangen kann. Da wird die Analyse schon etwas vereinfacht. Wobei das auch teilweise zu Recht gemacht wird, weil man es dem Zuschauer natürlich einfach machen will. Ich denke aber, man kann auch die komplexeren Metriken wie Raumkontrolle und Pressing sehr einfach darstellen. Es wäre schon schön, wenn in der Berichterstattung mehr Wert darauf gelegt würde. Aber das werden die Sender in Zukunft auch machen, das wird ganz sicher kommen.
„Der Fußball wird durch die Daten nicht langweiliger“
Denken Sie, der Fußball wird in Zukunft anhand der neu gewonnenen Daten zu entschlüsseln sein?
Das ist natürlich die Frage, die uns alle immer wieder bewegt. Das ist ja fast schon eine philosophische Frage. Ich denke, dass der Fußball an sich so komplex ist, aber gleichzeitig auch so einfach, dass wir zum Entschlüsseln noch lange brauchen werden. Der Sport wird sich auch weiterentwickeln, zum Beispiel gibt es immer wieder neue Regeln, die den Fußball verändern. Somit ist das Ganze dynamisch und daher werden wir sicherlich noch viele Jahre Spaß am Fußball haben. Sowohl die Wissenschaftler, die dem Entschlüsseln des Fußballs Stück für Stück näherkommen wollen, als auch die Fans, denen es wichtig ist, dass der Ausgang des Spiels ungewiss ist.
Natürlich ist es nicht schön schon im Vorfeld zu wissen, wer ein Spiel gewinnen wird. Aber der Fußball wird durch die Daten und Spielanalyse nicht langweiliger werden. Er wird spannender werden, denn je mehr man über die Mannschaften und den Gegner weiß, desto kreativer muss man sein. Man muss als Mannschaft variabel auftreten und das geschieht auch aktuell, dass Mannschaften innerhalb eines Spiels öfter das System ändern. Somit wird sich der Fußball in eine Richtung weiterentwickeln, in der ihn Daten interessanter und spannender machen.
Zur Person
Prof. Dr. Daniel Memmert ist geschäftsführender Institutsleiter
und Professor für Trainingswissenschaften und Sportinformatik
an der Sporthochschule Köln. 2017 hat er zusammen mit Dominik
Raabe das Buch „Revolution im Profifußball:
Mit Big Data zur Spielanalyse 4.0“ veröffentlicht.