Während in Europa und Nordamerika der E-Sport auf dem Vormarsch ist, gibt es eine Region, in der das gar nicht mehr nötig ist: In Südkorea ist Zocken schon seit Jahren Volks- und Leistungssport.
1. September 2018 in Cibinong, Indonesien: Die sükoreanische Fußballnationalmannschaft gewinnt nach Verlängerung 2:1 gegen Japan und holt damit Gold bei den Asienspielen. Sportlich bewegt das in Europa kaum jemanden, die Schlagzeilen lauten eher: Heung Min Son weiterhin bei Tottenham. Der 26-Jährige hätte eigentlich bis zu seinem 30. Geburtstag den etwa zweijährigen Militärdienst ableisten müssen, der in Südkorea in der Verfassung festgeschrieben ist. Doch wer bei den Asien- oder den Olympischen Spielen Gold gewinnt, der braucht nicht zu dienen. Das gesamte Nationalteam ist von der Wehrpflicht befreit.
Weniger als 48 Stunden zuvor, am 30. August 2018, in Jakarta, Indonesien, gewinnt auch Cho Seong Ju eine Goldmedaille. Cho ist besser unter seinem Nickname Maru bekannt, und in Südkorea berühmter als Heung Min Son. Er ist professioneller Starcraft-II-Spieler und seit Ende August einer der Sieger beim ersten quasi-olympischen E-Sport-Turnier. Ob er damit auch vom Militärdienst befreit wird, ist noch nicht ganz sicher, das Turnier war nur Teil der offiziellen E-Sport-Demonstration für die Asienspiele. Und selbst wenn es dieses Mal noch nicht so weit ist: In vier Jahren gehört Starcraft zum regulären Programm der Spiele.
„Entweder Korea, oder der Rest der Welt“
Einer, der dann auch um einen Startplatz für Südkorea kämpfen wird, ist Kang Min Soo, der im Spiel unter dem Namen Solar auftritt. An seinem Beispiel lässt sich erkennen, wie sehr sich Korea vom Rest der Welt unterscheidet, wenn es um E-Sport geht: Bis 2016 war Solar Teil der „südkoreanischen Seite des Spiels“, wie sein heutiger Team-Manager Timothy Harlin es ausdrückt. „Man spielte damals entweder in Korea oder überall sonst auf der Welt. Südkorea ist das Mutterland des E-Sport, darum waren die Strukturen und die Spieler viel weiter als überall sonst.“
Das sollte sich 2016 schlagartig ändern: Nach einem großen Wettskandal beendete KeSPA (Korean eSports Players Association) alle Starcraft-II-Aktivitäten. Dutzende Topspieler wurden von gefeierten Stars zu Arbeitslosen, viele wechselten ins Ausland. Erst jetzt, zwei Jahre später, beobachtet Harlin, wie sich die Spielstärken von Koreanern und den sogenannten foreigners einander annähern. Er führt das auf mehrere Faktoren zurück: „Zum einen ist E-Sport insgesamt populärer geworden, und wenn es im Ausland mehr Spieler gibt, ist auch die Wahrscheinlichkeit höher, dass Bessere dabei sind. Ein weiterer Faktor sind die vielen koreanische Spieler, die kurz nach dem Skandal ins Ausland gewechselt, da konnten die ausländischen Spieler viel lernen. Aber vor allem fehlen den Koreanern die komplett durchorganisierten Teamhäuser.“
Teamhäuser, die mittlerweile auch außerhalb Südkoreas durchaus populär sind, waren lange Zeit eines der Geheimnisse der koreanischen Starcraft-II-Übermacht. Das Konzept ist simpel: Alle Spieler und Coaches leben dauerhaft zusammen, für Training, Equipment und oft sogar einen Koch sorgt das Teammanagement. „Viele der besten koreanischen Spieler haben so in ihren aktivsten Zeiten bis zu 14 Stunden am Tag gespielt. In einigen Häusern durfte man nicht schlafen gehen, wenn man keine 40 Spiele abgeleistet hatte“, so Harlin.
Der Weg zu Olympia
Aber nicht nur auf der Ebene des Leistungssports hatte und hat Südkorea einen Sonderstatus gegenüber dem Rest der Welt. Eine Kombination aus Einfuhrbeschränkungen und dem wirtschaftlichen Opportunismus der südkoreanischen Mittelschicht führte in den späten 90er-Jahren dazu, dass PC-Spielen zur Freizeitbeschäftigung Nummer eins in Südkorea wurde: Wegen hoher Zölle waren japanische Spielekonsolen verhältnismäßig teuer, die Anschaffung privater PCs dagegen wurde von der Regierung subventioniert. Die Internetcafés, die nach der Wirtschaftskrise massenhaft gegründet wurde, weil sie den Eigentümern gute Gewinne versprachen, machten es auch für die ärmeren Teile erschwinglich, PC zu spielen. Softwareunternehmen wie Blizzard erkannten das, statteten PC Bangs – wie spezielle Spiel-Internetcafés nun hießen – mit günstigen oder kostenlosen Lizenzen aus.
Heute senden zwei TV-Sender ausschließlich E-Sport, einige haben seit der Hochzeit in den frühen 2000ern, als der Markt noch nicht aufgeteilt war, wieder schließen müssen. Doch vor allem wird E-Sport – wie auch in anderen Teilen der Welt – über Streamingplattformen wie Twitch konsumiert. Caster – also die Kommentatoren der Spiele – sind oft genauso bekannt und beliebt wie die Spieler selbst. Der nationale E-Sport-Verband ist reguläres Mitglied im NOK des Landes und hat im Asiatischen Olympischen Komitee schon die Aufnahme ins Programm der Asienspiele 2022 erwirken können. Bei Olympia 2020 in Japan wird E-Sport zwar noch nicht mit von der Partie sein, und auch für die Spiele vier Jahre später in Paris gehen Experten eher von Boule oder Billard als neue Sportarten aus. 2028, in den schon heute E-Sport-verrückten USA, könnte es aber die Goldmedaillenchance für Maru geben, den Sieger des Asienspiele-Turniers. Über seinen Militärdienst wird das aber nicht mehr entscheiden.