Mit dem Fortschritt einer Gesellschaft entwickeln sich auch ihre Zukunftsvisionen: Wozu sind wir fähig? Wie lebt es sich in 100 Jahren, vielleicht in gar nur 50? Welche Vorstellungen haben Menschen von der Technik der Zukunft? Was wir zu denken fähig sind, ergibt sich aus den uns umgebenden Narrativen. Und die haben sich allein im vergangenen Jahrhundert so drastisch geändert, dass sich die Zukunftsvisionen von damals heute lesen lassen wie die naiven Träume eines Kindes – das ist amüsant und hoch spannend. Drei Beispiele von Zukunftsvorstellungen aus der Vergangenheit.
1. Das erste „Lustige Taschenbuch“ (LTB)
Das erste „Lustige Taschenbuch“ (LTB) erschien im Oktober 1967 unter dem Titel „Der Kolumbusfalter“. Im gleichen Jahr hatte der siebte Parteitag der SED die Einführung der 5-Tage-Woche in der DDR beschlossen. Seit fünf Wochen gibt es in Westdeutschland den Farbfernseher. Das legendäre Beatles-Album „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ ist gerade wenige Monate alt. Anfang des Jahres hatte James Bedford als erster Mensch seinen verstorbenen Körper in Kryostase versetzen lassen, um in der Zukunft wiederbelebt werden zu können.
Was für eine Zeit! Die letzte Geschichte im besagten ersten LTB ist entsprechend bezeichnend. Ihr Titel: „Donald im Jahr 2001“.
Auf dem ersten Bild des Comics sieht man eine futuristische Stadt mit hohen Gebäuden und Türmen in geschwungenen, runden Formen, deren glatte Oberflächen im Sonnenlicht glänzen. Die Menschen in diesem Jahr 2001 bewegen sich mit Propellerrucksäcken und kleinen Bollerwagengefährten durch die Straßen. Am Himmel fliegen Autos. Protagonist Donald Duck und seine drei Gehilfen sind sichtlich überfordert damit sich in dieser neuen Welt zurecht zu finden.
Interessant ist hierbei nicht allein das Bild der Zukunft als eine vollständig durchtechnisierte Epoche, in der der Mensch die Gesetze der Physik entweder überwunden oder vollständig durchdrungen haben wird. Spannend ist vor allem die Jahreszahl: 2001. Ein Jahr nach der magischen Jahrtausendwende, die 1967 in 34-jähriger Ferne lag. Der Zeichner Luciano Gatto war zu diesem Zeitpunkt 33 Jahre alt und imaginierte mit diesem Comic also gleichzeitig die Zeit seines eigenen Altseins. 17 Jahre nach diesem imaginären Jahr 2001 scheint die abgebildete Welt nicht minder fern zu sein als noch 1967.
2. Postkarten von der Pariser Weltausstellung
Die Weltausstellung in Paris im Jahr 1900 fiel in eine ereignisreiche Zeit: Nur fünf Jahre zuvor hatten die Gebrüder Lumière in einer öffentlichen Vorführung den allerersten Film gezeigt. Seit gerade einmal knapp 15 Jahren gab es erste Automobile und elektrische Straßenbeleuchtung. Und anlässlich der Weltausstellung eröffnete Paris seine Metro. In diesen Jahren entwarfen französische Künstler unter dem Titel „En L’An 2000“ Postkarten mit Illustrationen ihrer Zukunftsvorstellungen – darunter der Maler Villemard. Er zeichnete eine Vielzahl entsprechender Motive, die teilweise noch heute absurd erscheinen – andere dagegen sind bereits tatsächlich Realität.
Dazu gehören die Vision eines elektronischen Putzgerätes – vergleichbar mit frei durch die Wohnung fahrenden Staubsaugern – und sogar die Idee eines automatisierten Orchesters: Die Klavierwalzen und Pianolas, sozusagen über Pedale angetriebene automatisch spielende Klaviere, wurden zur Zeit der Entstehung dieser Postkarten bereits hergestellt.
Dass es aber irgendwann vollständig elektronische Musik geben könnte, die wirklich ohne das Wirken eines Menschen entstehen und gespielt werden kann – oder gar Techniken, die selbst komponieren -, vermutete vor 118 Jahren wohl noch niemand. Absurd oder tatsächlich (noch) in weiter Ferne dagegen wirken auch heute noch die Idee von fliegenden Feuerwehrleuten, die problemlos brennende Dächer erreichen. Genauso diejenige von einer Brutmaschine, in die eine Bäuerin über ein kleines Fließband Eier schickt, und die innerhalb kürzester Zeit quicklebendige Küken produziert. Und, auch hier, die Vision des Luftverkehrs mit fliegenden Gefährten. Eine große Auswahl der Bilder gibt es auf wikimedia zu sehen.
3. Wie sich das ZDF 1972 die Zukunft vorstellte.
Die Dokumentation „Richtung 2000“ des ZDF aus dem Jahr 1972 beginnt mit den Worten: „Auch im Jahr 2000 müssen die Menschen noch morgens aufstehen, denn immerhin arbeiten die meisten von ihnen noch: 25 Stunden in der Woche.“ Natürlich ist der Alltag hier voll mit Technik, „beherrscht von Elektronik“. Der Wecker ist ein kleiner Fernseher, auf dem eine junge Frau zu dem 45-jährigen Protagonisten spricht – „Sie wollten geweckt werden“. Dieser wiederum hat ein künstliches Herz und Depressionen, die er problemlos mit „Optimum 10“, einem „schnell wirkenden Medikament“, behandelt.
Der Mann im Film beginnt seinen Tag mit dem Drücken verschiedener Knöpfe auf einer Schalttafel, mit denen er das Licht im gesamten Haus anschaltet. Nur drei Jahre nach der ersten Mondlandung und den ersten Bildern vom Mars, zudem wenige Monate, nachdem die allererste e-Mail ein Postfach verlassen hatte, war die Technikbegeisterung in der Bevölkerung groß.
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Die Dokumentation dauert insgesamt rund etwa eine halbe Stunde. Manches, was gezeigt wird, mutet kurios an, anderes wiederum ist tatsächlich weitsichtig: So werden unter anderem mögliche Vereinsamung durch die Technisierung thematisiert, die Ausbeutung der Landschaft, Luftverschmutzung durch Verkehr.
So fantasievoll und radikal manche dieser damaligen Zukunftsvisionen auch erscheinen, es ist doch bezeichnend, dass sie hinsichtlich der für potenziell real gehaltenen technischen Möglichkeiten extrem konservativ geprägt sind. Die drei hier angeführten Beispiele hatten verschiedene Zwecke: Die ZDF-Dokumentation will möglichst nah an einer tatsächlich realisierbaren Zukunftsvision bleiben. Und auch die visionären Postkarten-Ideen zur Weltausstellung erschienen aus damaliger Sicht wohl nicht völlig absurd. Die abgebildeten Figuren tragen das übliche Dress, die gezeigte Technik ist bekannt. Der Comic hingegen ist ausschließlich fiktiv, eine reine Gedankenspielerei.
Gehen uns die Utopien aus?
Über den zu der Zeit gegebenen denkbaren Horizont gehen die jeweiligen Ideen nicht hinaus. Es erscheint gar so, als würden wir mit unseren Zukunftsvisionen immer vorsichtiger, als schrumpfte mit den wachsenden Erkenntnissen über die Welt gleichsam unsere Fantasie. Die Ideen, angefangen beim Turmbau zu Babel und Ikarus, bei E.T.A. Hoffmanns „Automat“ und Johann Wolfgang Goethes „Homunculus“, sind über die Jahrhunderte hinweg gleich geblieben: Künstliches Leben erschaffen. Das Leben verlängern oder verewigen. Die Fortbewegung optimieren. Die Versorgung perfektionieren. Das Zusammenleben von Konflikten zu befreien. Der Philosoph Karl Valentin sagte den klugen Satz: „Die Zukunft war früher auch besser.“ Nur, wenn sich die groben Visionen nicht wirklich ändern und möglicherweise nach und nach als unrealisierbar abgehakt werden, drohen uns die Utopien irgendwann auszugehen? Sind sie gar sinnlos?
Ende vergangenen Jahres veröffentlichte die ZEIT ein starkes Plädoyer für die Utopie. „Das Interessante an Utopien“, schreibt Gero von Randow, „ist ihr Spannungsverhältnis zur Realität“ – genau das, was man Jahre später als kurios oder eben als zutreffend empfinden kann. Der Ökonom Otto Neurath spitzt es noch weiter zu: Man erkenne, schreibt er, „doch erst voll das Wirkliche, wenn man auch das Mögliche überschaut.“ Unsere Utopien sind wohl auch deshalb teilweise seit Hunderten von Jahren im Grunde immer die Gleichen. Sie sind die fernen Ziele, die wir uns stecken, möglicherweise in dem Bewusstsein sie nie im ausgedachten Sinne erreichen zu können. Sie treiben uns voran. Das fängt beim Lustigen Taschenbuch an – und wird auch in den Zukunftsvisionen des Jahres 3001 nicht enden.