Der Berliner Soziologe Steffen Mau liefert in seinem Buch „Das metrische Wir“ eine Bestandsaufnahme der Vermessung des Sozialen ab. Eindrücklich zeigt er auf, welchen Siegeszug Zahlen und Scores, Rankings und Ratings in allen möglichen Gesellschaftsbereichen angetreten haben. Bis zu einer Bestenliste, die alle diese Daten vereint und jedem Bürger einen individuellen Wert zuweist, ist es nicht mehr weit, wie Mau mit einem Beispiel aus China illustriert. Eine Rezension.
Die Autorin Juli Zeh hat bereits 2009 beschrieben, wie eine datenbasierte Überwachungsgesellschaft aussehen könnte: In ihrem Roman „Corpus Delicti“ entwirft sie eine Gesundheitsdiktatur, in der nahezu sämtliche Körperparameter vom Staat ausgelesen werden. Seit 2009 sind die Datenmengen, die über jeden einzelnen Menschen potentiell verfügbar sind, weiter angewachsen, und auch die Praxis der Selbstvermessung im Dienste einer ständigen Steigerung von Gesundheit und Wohlbefinden erfreut sich bei vielen Menschen großer Beliebtheit.
Der Berliner Soziologe Steffen Mau kann sein im Juni 2017 erschienenes Sachbuch „Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen“ folgerichtig mit einem ähnlich dystopischen Szenario beginnen, nur dass es sich in diesem Fall um ein reales handelt: Chinas Ankündigung, bis 2020 alle Daten über jeden Staatsbürger in einem einzigen „Social Credit System“ zusammenzufassen – von der Kreditwürdigkeit bis hin zu Bewertungen von Vorgesetzten und Lehrern.
Ein extremes Beispiel, aber Mau liefert einen eindrücklich umfassenden Überblick über verschiedene gesellschaftliche Bereiche, in denen Quantifizierung und die durch sie entstehende Vergleichswut eine große Rolle spielen: Ob im Gesundheits- oder Bildungssystem, im Kulturbetrieb oder an Universitäten, am Arbeitsmarkt und selbst in der Freizeitgestaltung, ob im Fitnessstudio oder bei der Wahl der richtigen Eisdiele.
Wie viele Facebook-Freunde habe ich?
Mau schreibt auch über Self-Tracking ebenso wie über Rankings von Universitäten und Ratings von Staaten, über Bonusmeilen und datenbasierte Grenzkontrollen. Er greift den „Bewertungskult“ auf, der uns über Smileys auf Touchscreens oder über eine unnachgiebige Flut von Mails begegnet, in denen wir aufgefordert werden, unseren letzten Hotelaufenthalt zu bewerten. Die „Quantifizierung des Sozialen“ spielt sich, wie Mau aufzeigt, auch in vielen Unternehmen ab, wo die Chefs ihre Mitarbeiter untereinander in den Wettstreit um den besten Score treten lassen. Wer sich durch die Daten als „Minderleister“ erweist, fliegt raus. Auch soziale Netzwerke befeuern die Selbstanpreisung und den Drang, sich selbst zu optimieren.
Mau begegnet dem Datenfetischismus, der Wettbewerbs- und Bewertungskultur der Gegenwart mit Skepsis, aber mit einem doch vergleichsweise nüchternen, analytischen Blick. „Das metrische Wir“ ist kein polemisches Pamphlet wider den Kult der Datensammlung, sondern beschreibt auf auch für Laien eindrückliche und einleuchtende Weise, was der Siegeszug von Daten für die Gesellschaft bedeutet.
Mau schreibt verständlich und anschaulich, kombiniert wissenschaftliche Tiefe mit Beispielen aus der Populärkultur und dem Alltagsleben – und weiß ganz ohne belehrenden Duktus genau, wie schwer es ist, sich dem Zahlenrausch und dem ständigen Wunsch der Vergleichbarkeit zu entziehen. „Viele wissen, dass die Anzahl der Facebook-Freunde wenig Aussagekraft besitzt und haben sie doch permanent im Auge“, schreibt er.
Mau trifft hier einen wunden Punkt, denn wer hat sich noch nicht dabei ertappt, die Zahl der Likes unter seinem Facebook-Profilbild mit denen der Freunde zu vergleichen? Wer hat noch nie nach Bewertungen gegoogelt, bevor er eine neue Arztpraxis besucht?
Zahlen als Selbstvergewisserung
„Das Metrische Wir“ macht klar, dass die Datensammelwut eben nicht eine rein technologische, unausweichliche Folge der neuen digitalen Möglichkeiten ist – sondern dass sie eben auch von unserer Bereitschaft getrieben und verstärkt wird, unsere Daten zu welchem Zweck auch immer preiszugeben. Der Mensch hat ein Bedürfnis, sich mit anderen zu vergleichen. Das Verlockende der Zahlen, so Mau, ist ihre scheinbare Neutralität und Objektivität. Zahlen verleihen einer Aussage Glaubwürdigkeit. Zahlen schaffen Vergleichsmöglichkeiten, und die wiederum erzeugen Wettbewerb.
Der Vergleich des eigenen Werts mit den Werten anderer dient der Selbstvergewisserung – ob bei der Zahl der durchschnittlichen täglichen Schritte oder bei den Bewertungen, die der Kollege von seinen Kunden bekommen hat. Das Gefährliche aber: Eine Sättigung kann gar nicht mehr erreicht werden. Im unendlichen Verdatungsprozess kreist alles und jeder nur noch um die stetige Optimierung des eigenen Ergebnisses im großen Ranking. Gut ist niemals gut genug.
Wenn Mau seinen Ausführungen eine Warnung vor allzu einseitiger Kulturkritik vorausschickt, wirkt das fast wie eine Selbstermahnung. Und tatsächlich gelingt es dem Autor über weite Strecken, auch die positiven Effekte der Quantifizierung mitzudenken: Das Tracking von Gesundheitsdaten ermöglicht der Forschung wertvolle Einblicke in die Bedingungen von Gesundheit und Krankheit. Bewertungsportale im Netz haben durchaus auch emanzipatorischen Charakter, erlauben sie es dem Kunden doch, bereits vor der Inanspruchnahme einer Dienstleistung das Für und Wider eines bestimmten Dienstleisters abzuwägen. Und auch in eher autoritären Statusbeziehungen – wie etwa zwischen Lehrern und ihren Schülern – bekommt der von der Bewertung des ‚Höhergestellten‘ Abhängige durch die Bewertungsmöglichkeiten etwas mehr Macht.
Das Ende der Klassengesellschaft?
Deutlich wird aber, dass die „Risiken und Nebenwirkungen“ der Quantifizierung, wie Mau es tatsächlich nennt, drastisch sind. Besonders wachrüttelnd sind Maus Ausführungen zu Versicherungstarifen, die auf individuellen Daten basieren, und die es zum Teil auch schon gibt. Hier zeigt der Autor auf, wie die Quantifizierung die Gesellschaft spalten und entsolidarisieren könnte. Die vormalige Solidargemeinschaft der Krankenkassen zerbröckelt in ein ungleiches Kollektiv aus hyperindividualisierten Tarifen. Wer sich selbst trackt und gute Ergebnisse erzielt, sich stetig optimiert, zahlt weniger. Wer sich dem Tracking verweigert, zahlt mehr – und muss dem stetigen Vorwurf begegnen, er habe etwas zu verbergen.
Maus dystopisches Szenario leuchtet aber nur in Teilen ein. Denn während der Autor durch die Quantifizierung eine neue Ungleichheit herbeiziehen sieht, glaubt er auch an das Ende der Klassengesellschaft. Statt einem Konflikt der Klassen dominiere künftig der Wettbewerb zwischen Individuen. Ja, die Vergleichswut hat, wie Mau richtig beschreibt, schon weite Teile der Gesellschaft ergriffen. Aber eben noch lange nicht alle. Self-Tracking etwa mag sich in gewissen Milieus einer großen Beliebtheit erfreuen (es ist anzunehmen, dass sich in diesem Kreis auch einige Hochschullehrer tummeln) – aber leisten kann es sich noch lange nicht jeder. Und so räumt Mau selbst ein, dass vor allem viele beruflich erfolgreiche Menschen unter den Self-Trackern zu finden seien. Ein bisschen Klassengesellschaft schimmert da also doch noch durch. Vielleicht ist es ja doch nur die Elite, die sich dem stetigen Vergleich hingibt. Der Rest hat ohnehin keine Chance, etwas zu optimieren.
Transparenz für alle – außer für Algorithmen?
Werden wirklich so viele Menschen, Unternehmen und Institutionen in den datenbasierten, nimmersatten Überbietungswettbewerb einsteigen, wie Mau es prognostiziert? Wird der „Modus des Kalkulativen“ wirklich die gesamte soziale Ordnung erfassen? Der Autor setzt zu wenig Vertrauen in die Fähigkeiten einer demokratischen Gesellschaft, sich einem totalitären Regime der Daten zu entziehen. Sein Buch ist dennoch zu empfehlen: Als Warnung, wohin uns allzu viel Datenweitergabe und -erhebung führen könnte. Als Mahnung, sich von scheinbar objektiven Indikatoren nicht verführen zu lassen, sondern zu hinterfragen, auf welcher Grundlage wie auch immer geartete Rangplätze zustande gekommen sind.
Das gilt, wie Mau ausführt, insbesondere für algorithmisch erzielte Erkenntnisse. Denn Algorithmen schaffen es paradoxerweise bislang, sich dem „Anspruch auf Transparenz und Nachvollziehbarkeit“, der sonst an alles Denkbare angelegt wird, effektiv zu entziehen. Sie sind letztlich „Arkanpraktiken“, hält Mau fest: „Der technische Charakter der Prozeduren vermag zu verschleiern, auf welche Weise bestimmte Vorannahmen in die Programmierung einfließen, welche Selektionen vorgenommen werden und welche denkbaren Alternativen ausgeschlossen werden.“ Ein Transparenzgebot für Algorithmen im Sinne von mehr algorithmic accountability wäre also eine Möglichkeit, den Einfluss der „Quantifizierung des Sozialen“ kritisch zu thematisieren und Schwachstellen offenzulegen.
Steffen Mau: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Edition Suhrkamp, 18 €.
Titelbild: T. Dallas/Shutterstock.com
Und das ist der Autor Dominik Speck ist Masterstudent am Institut für Journalistik der Technischen Universität Dortmund. Er hat bei der Nachrichtenagentur epd in Frankfurt und Berlin volontiert. Sein besonderes Interesse gilt Themen aus Medienbranche und Medienwissenschaft. Als freier Journalist schreibt er unter anderem für den Fachdienst epd Medien.