Politische Wahlen werden zunehmend im Netz entschieden. Das Brexit-Votum, die letzten Präsidentschaftswahlen in den USA und der Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl 2017 haben gezeigt: Der digitale Wahlkampf ist für Parteien so wichtig wie nie zuvor. Doch mit welchen Marketinginstrumenten wird man digital erfolgreich? Und welche Konsequenzen hat das für die Wahlkämpfe der Zukunft?
Digitale Werbung ist so gefragt wie nie
Die Wissenschaftler Ben Scott und Dipayan Gosh haben sich in ihrer Arbeit „Digital Deceit – The Technologies behind Precision Propaganda on the Internet“ mit digitaler politischer Werbung beschäftigt. Ihrer Auffassung nach wird 2019 das Jahr sein, in dem erstmals die Umsätze der digitalen Werbeindustrie die der klassischen Werbung weltweit überholen. Warum das Online-Marketing so einen Aufschwung erlebt, erklärt Marketing- und Datenexperte Frank Pöschmann:
Frank Pöschmann über die zunehmende Relevanz digitaler Werbung
„Klassische Werbung hat einen sehr hohen Streueffekt. Man wirbt in die Weite in der Hoffnung, die wenigen, die es betrifft, zu erreichen. Das digitale Medium ist ein viel personenbezogeneres und individuelleres Phänomen und Sie haben auch die Möglichkeit, eine Interaktion fortzuführen. Das heißt, der Kontakt kann über eine Lebensdauer gefahren werden und man kann die Erfolge messen. Damit gewinnt digitale Werbung als Instrument einfach viel mehr Attraktivität. Man darf nicht vergessen: Werbung ist Kommunikation und was digitale Werbung kann, ist viel individueller kommunizieren.“
Auch für die politische Kommunikation hat die zunehmende Verlagerung ins Internet Konsequenzen: Der Erfolg von Werbemaßnahmen wird besser messbar. Und Parteien sind unabhängiger in ihrer Kommunikation, sagt Tobias Nehren, der unter anderem im Bundestagswahlkampf 2017 den Bereich Digitale Kampagnen der SPD geleitet hat:
Tobias Nehren über die Entwicklung der politischen Kommunikation
„Da, wo früher Gatekeeper eine Bedeutung hatten und klassische Medien die Agenda gesetzt haben und der verlässlichste und letztlich auch der einzige Ansprechpartner für Massenkommunikation von Parteien waren, ist diese singuläre Stellung der klassischen Medien zunehmend diffundiert. Wir sind von Nachrichtenzyklen, die sich in 12-Stunden-Rhythmen bewegt haben, hin zu, was wir heute als Nachrichtenstrom bezeichnen würden. Und damit einhergehend hat sich sehr viel daran geändert, wie umkämpft Aufmerksamkeit ist.“
Passgenau werben mit Microtargeting
Das Internet bietet noch einen weiteren fulminanten Vorteil, um der Werbeflut und der damit einhergehenden Sättigung der Rezipienten entgegenzuwirken. Werbetreibende können potenzielle Käufer (oder Wähler) viel direkter und passgenauer ansprechen – mit perfekt auf sie zugeschnittene Werbebotschaften. Mit dem sogenannten Microtargeting können Kleinstgruppen, wie zum Beispiel Haushalte oder Einzelpersonen, mit personalisierten Inhalten bespielt werden.
Das passiert auf Basis von Daten, die wir alle überall online, aber auch offline hinterlassen. Das können zum Beispiel GPS-Daten sein oder Informationen darüber, auf welchen Webseiten wir uns bewegen. Auch wer beim Einkaufen digitale Rabattpunkte sammelt, gibt persönliche Daten preis. Spezielle Unternehmen sammeln diese Daten mithilfe verschiedener Tracking-Mechanismen. Wie schon länger bekannt ist, werden auch unsere Aktivitäten in sozialen Netzwerken, wie zum Beispiel unsere Likes auf Facebook, ausgewertet.
Mit fünf Faktoren zur Allwissenheit
Doch was verrät es über die Persönlichkeit eines Menschen, wenn man weiß, dass er oder sie zum Beispiel Arztserien, die Rolling Stones oder Pferdeseiten geliket hat? Je mehr Likes eine Person auf Facebook verteilt hat, desto genauere Aussagen können mithilfe künstlicher Intelligenz über sie getroffen werden. Laut dem US-amerikanischen Psychologen und Datenforscher Michal Kosinski reichen schon rund 70 Likes bei Facebook, um das Verhalten einer Person besser vorhersagen zu können als deren Freund. 150 Likes schlagen das Wissen der eigenen Eltern. Mit 300 Likes könne eine künstliche Intelligenz das Verhalten einer Person sogar eindeutiger vorhersagen, als deren Partner. Im Jahr 2012 erbringt Kosinski den Nachweis, dass sich mit nur 68 Facebook-Likes die Hautfarbe eines Users vorhersagen lässt, ob er homosexuell ist und ob er Demokraten oder Republikaner wählt.
Kosinski erforscht an der Stanford University den digitalen Einsatz der sogenannten OCEAN-Methode. Laut dieser Methode gibt es fünf Persönlichkeitsdimensionen, in denen sich Menschen auf Skalen einordnen lassen: Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus. Ist bei jemandem zum Beispiel der Faktor Neurotizismus stark ausgeprägt, gilt er als emotional und verletzlich. Eine Botschaft, die auf Selbstsicherheit abzielt, wird bei ihm also wahrscheinlich weniger gut ankommen und funktionieren als eine Botschaft, die an seine Ängste anknüpft.
Die OCEAN-Methode
Gebt ihnen, was sie hören wollen!
Kombiniert man die Mengen an Daten über eine Person, können mithilfe künstlicher Intelligenz sehr genaue Persönlichkeitsprofile über jeden Einzelnen erstellt und daraus Wahrscheinlichkeiten, sogenannte Affinity Scores, abgeleitet werden. Das sind Wahrscheinlichkeiten darüber, ob jemand ein bestimmtes Produkt kaufen oder einen Vertrag abschließen wird. Ein spannendes Werkzeug für Werbetreibende, die ihre Angebote anhand solcher Persönlichkeitsprofile ganz genau an potenzielle Käufer anpassen und so die Wahrscheinlichkeit eines Kaufabschlusses erhöhen können.
Microtargeting kann aber nicht nur beim Online-Shopping zum Kaufen verleiten. Es wird auch in Wahlkämpfen eingesetzt. So kann zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit errechnet werden, dass jemand eine bestimmte Partei wählen wird, ob die Person noch unentschlossen oder Wechselwähler ist. Die Marketingabteilungen der Parteien können ihre Botschaften dann in ihrer Machart, ihrer Ansprache oder ihrem Ausspielweg personalisiert anpassen und – genau wie Onlinehändler – die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass jemand genau ihre Partei wählt. Ein demokratiegefährdendes Manipulationswerkzeug oder bloß die Modernisierung der politischen Werbung?
Microtargeting im US-Präsidentschaftswahlkampf
Großes Aufsehen erregte das Vorgehen von Cambridge Analytica im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016. In einem Vortrag auf dem Concordia Summit in New York im September 2016 erklärt Alexander Nix, CEO von Cambridge Analytica, erstmals öffentlich, welche Macht psychografische Daten haben:
Most communication companies today still segment their audiences by demographics and geographics. But when you pause for just a moment, the idea that all women should receive the same message because of their gender or all African Americans because of their race or all old people or rich people or young people do get the same message because of their demographics, just doesn’t make any sense. Clearly, demographics and geographics and economics will influence your world view, but equally important or probably more important are psychographics. That is an understanding of your personality. Because it’s personality that drives behavior and behavior obviously influences how you vote.
Alexander Nix, CEO Cambridge Analytica
Wenig später wird öffentlich, dass Cambridge Analytica auch im Wahlkampf von Donald Trump mit Microtargeting-Techniken gearbeitet und so seinen Wahlsieg forciert haben soll. Laut der Schweizer Zeitschrift „MAGAZIN“ gab Nix nach Trumps Wahlsieg an, dass dessen Team am Tag der dritten Präsidentschaftsdebatte zwischen Trump und Clinton eine Botschaft in 175.000 verschiedenen Variationen an Kleinstgruppen ausgespielt habe – größtenteils via Facebook. Die Botschaften sollen sich meist nur in mikroskopischen Details unterschieden haben: verschiedene Titel, Farben, Untertitel, mit Foto oder mit Video.
Die persönlichen Daten habe Cambridge Analytica aus allen möglichen Quellen gekauft: Grundbucheinträge, Bonuskarten, Wählerverzeichnisse, Clubmitgliedschaften, Zeitschriftenabonnements, medizinische Daten und Onlinedaten, unter anderem aus einem gratis Persönlichkeitstest bei Facebook. Dieser wurde über die App „thisisyourdigitallife“ verbreitet und sammelte nicht nur Informationen über die etwa 270.000 Menschen, die ihn bewusst beantwortet hatten, sondern auch über deren Facebook-Freunde. Insgesamt konnten so, laut Angaben von Facebook, Daten von 87 Millionen Facebook-Nutzern gesammelt werden.
Microtargeting in Deutschland
Kampagnenexperte Tobias Nehren bestätigt, dass digitale Wahlkampfpraktiken auch in Deutschland angekommen sind, wenn auch in kleinerem Ausmaß. Die Online-Nachrichtenseite netzpolitik.org berichtet vom Microtargeting-Einsatz deutscher Parteien im Bundestagswahlkampf 2017. So hätten die AfD, aber auch etablierte Volksparteien angepasste Botschaften an spezielle Empfängergruppen ausgespielt. In einer Facebook-Anzeige für Fans der AfD-Seite habe CDU-Politiker Jens Spahn 2017 für „sichere Außengrenzen für ein sicheres Europa“ geworben und gefragt: „Seht ihr das genauso?“ Menschen in Großstädten hätten dagegen eine eher weltoffene Anzeige von ihm mit der Botschaft „Deutschland ist großartig“ zu sehen bekommen.
Datenbasiertes Microtargeting lässt sich aber auch „im Kleinen“ anwenden, beispielsweise im Haustürwahlkampf. Frank Pöschmann erklärt, wie das aussehen kann:
Frank Pöschmann über den Einsatz digitaler Marketinginstrumente
„Was wir in Deutschland haben, ist, dass die Parteien auf der Bundesebene Instrumente für ihre eigenen Kandidaten anbieten, damit die in ihrem Wahlkampf viel gezielter digital werben können. Solche Instrumente sind zum Beispiel, dass die Kandidaten Unterstützung darin bekommen, in welchen Straßenzügen es eine höhere Ausprägung für die eigene Partei gibt als für eine andere. Dass man schon vorher sagen kann, an welcher Haustür man klopfen sollte. Das kann so weit gehen, dass man den Vertreter der einen Partei auf der rechten Straßenseite und der Vertreter der anderen Partei auf der linken Straßenseite Wahlkampf betreiben sieht.“
Und in Zukunft?
Wie werden sich die Wahlkämpfe in Zukunft entwickeln? Gewinnt bald die Partei, die am meisten Geld für Daten ausgibt und allen nach dem Mund redet und nicht mehr – so wie es wünschenswert wäre – die, mit dem besten Programm oder dem überzeugendsten Kandidaten? Und: Ist unsere Demokratie in Gefahr? Für Tobias Nehren jedenfalls, der inzwischen vom SPD-Newsroom in die freie Wirtschaft gewechselt ist, bleibt die romantische Hoffnung an gute politische Inhalte – unabhängig von Microtargeting und anderen digitalen Marketinginstrumenten:
Tobias Nehren über die Zukunft der politischen Kommunikation
„Auf der kommunikativen Ebene glaube ich nicht, dass es darum geht, in 2021 die klügste Strategie für Facebook zu haben. Oder den, der am besten Instagram bespielen kann. Sondern eher, wer es schafft, ein funktionierendes Konstrukt aufzubauen, in dem der Kandidat oder die Kandidatin sich mit seinem oder ihrem Programm bewegen kann. Gleichzeitig, dass man es schafft, das an einen Zeitgeist anklicken zu lassen, der die Menschen mobilisiert, elektrisiert, begeistern kann und mitnimmt.“