Für die einen waren sie die großen Pionierinnen und Pioniere des Journalismus, große Erzählkünstler, Rebellinnen und Rockstars. Für die anderen: Scharlatane, die mit ihren subjektiven Reportagen die Grenze zur Literatur schon längst überschritten hatten. Die Rede ist von New Journalism, Gonzo, Popjournalismus und anderen Formen des Literarischen Journalismus.
Exzerpt aus der Arbeit
Die New Journalists rebellierten in den 1960er Jahren gegen den etablierten Nachrichtenjournalismus. Sie setzten auf Subjektivität, auf einen künstlerisch-literarischen Schreibstil. Sie beleuchteten die Hintergründe der bloßen Fakten, schauten auf die „blinden Flecken“ der Berichterstattung. Die Arbeiten des New Journalism waren damit Provokation und Korrektiv zugleich. Auch heute kann der Literarische Journalismus eine Chance für das kriselnde Journalismus-System sein. Wenn die journalistischen Qualitätskriterien erfüllt werden, sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Das zeigt das Modell vom „Künstlerisch-narrativen Journalismus“.
Drei Fragen an den Autoren
Warum haben Sie dieses Thema gewählt? Warum ist das Thema relevant?
Wir leben in Zeiten, die den chaotischen 60er Jahren ähneln. Es sind Zeiten voller gravierender Umbrüche. Zeiten, in denen die Realität für viele Menschen oft nicht mehr durch bloße Fakten fassbar ist. Das ist mitunter ein Grund für den Erfolg von Populismus und „alternativen Fakten“. Wir leben in Zeiten, in denen der Qualitätsjournalismus immer mehr unter Druck gerät, etwa durch Youtube, Netflix und Co. Damals wie heute kann der Literarische Journalismus dabei helfen, den Journalismus zu reformieren, ansprechender zu machen für junge Menschen und die komplexe Realität abseits der bloßen Fakten besser erfahrbar und durchdringbar zu machen.
2021 ist aber auch zwei Jahre nach dem Skandal um Claas Relotius, dem gefeierten Reportagen-Schreiber des SPIEGEL, der aufflog, weil er seine preisgekrönten Geschichten frei erfunden hatte. 2021 ist das Jahr, in dem herauskam, dass die gefeierte NDR-Filmreportage „Lovemobil“ von Elke Margarete Lehrenkrauss über Prostitution im Wohnwagen in großen Teilen gestellt und gefaked war. All diese Beispiele zeigen auf, wo die Gefahr beim (literarisch) erzählenden Journalismus liegt. Nämlich darin, in die Fiktion abzurutschen und damit ein Kernanliegen des Journalismus ad absurdum zu führen: die Realität der Gesellschaft reflektieren helfen.
Die Kernfragen meiner Arbeit sind, wie der Literarische Journalismus entstanden ist, wo seine Grenzen und seine großen Qualitäten liegen. Sie sind also brandaktuell.
Welche Methode haben Sie gewählt und wieso?
Ich habe die Form der praktischen Arbeit (Radiofeature) mit Theorieteil gewählt, weil nichts besser zum Thema gepasst hätte: Der New Journalism verstand sich immer als Rebellion gegen den etablierten Journalismus, als eine unkonventionellere, frischere und subjektivere Spielart des Journalismus, die alle Sinne anspricht und nicht nur informiert, sondern auch unterhält. Die den Rezipienten an die Hand nimmt und ihn Geschichten hautnah miterleben lässt. Es war also in meinem Fall naheliegend, das Thema mithilfe eines Radiofeatures zu bearbeiten. Eine Darstellungsform, die eben genau diese Form der „sinnlichen“ Themenvermittlung zulässt. Wie man meinem Theorieteil entnehmen kann, kann auch das Radiofeature in bestimmten Fällen als eine erweiterte Darstellungsform des Literarischen Journalismus gesehen werden.
Im Theorieteil konnte ich schließlich die komplexe wissenschaftlich-theoretische Materie, die diesem aufregenden Genre zugrunde liegt, durchleuchten und die Frage beantworten: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Literatur und Journalismus und wo in diesem Grenzbereich liegt der Literarische Journalismus? Hier arbeitete ich mit Ansätzen der Systemtheorie nach Luhmann, Blöbaum und Eberwein.
Welche Ergebnisse haben Sie am meisten überrascht?
Überrascht hat mich, wie klar man Literatur, Journalismus und Literarischen Journalismus letztendlich doch voneinander abgrenzen kann. Auch wenn viele den Literarischen Journalismus für einen undefinierbaren Hybrid im Grenzbereich zwischen Literatur und Journalismus halten.
Nutzt man einen systemtheoretischen Ansatz, kommt man zu folgendem Schluss: Literarischer Journalismus ist ganz klar Journalismus, weil er die einzigartige Funktion des Journalismus-Systems erfüllt, und zwar die Sammlung, Auswahl, Bearbeitung und Überprüfung aktueller Themen zur Selbstbeobachtung der Gesellschaft. Dabei nutzt er auf struktureller Ebene (also meist auf Ebene der Darstellungsformen) Mittel der Literatur, also des sozialen Systems Kunst.
Wenn ein Text journalistischen Qualitätskriterien entspricht, also journalistisch sauber recherchiert wurde und wenn er die journalistische Kernfunktion erfüllt, dann sind der Kreativität ansonsten kaum Grenzen gesetzt. Fiktive Elemente müssen natürlich als solche erkennbar sein.
Und das war die zweite Sache, die mich überrascht hat: Auch stark fiktive Texte wie Glossen, Minidramen oder sogar Gedichte können demnach als journalistisch gesehen werden. Nach meinem eigenen Modell des „künstlerisch-narrativen Journalismus“ (ein Journalismus, der nicht nur mit literarischen, sondern mit allen möglichen künstlerischen Mitteln arbeitet), können sogar Radiofeature, Videoreportagen oder Animationsfilme und Comics als erweiterte Darstellungsformen des Literarischen Journalismus gesehen werden. Vielleicht gibt es in Zukunft sogar journalistische Skulpturen und Installationen oder politsatirische Minidramen, aufgeführt auf einer Bühne, ein journalistisches Musical, oder zwei Kolumnisten im Rap-Battle.
Der Autor: Philip Michael
Studium:
Journalistik BA (Nebenfach Politikwissenschaften), Institut für Journalistik Dortmund
Arbeitsschwerpunkte:
Themen aus Kultur und Gesellschaft,
Reportagen, die ungewöhnliche Geschichten von ungewöhnlichen Menschen erzählen
Wichtigste journalistische Stationen:
2014: Freie Mitarbeit beim Magazin Télécran in Luxemburg
2015-2016: Volontariat beim WDR in Köln und in Dortmund
2017-2021: Freie Mitarbeit im WDR-Studio Dortmund