Immer mehr Daten sind nutzbar. Doch sind sie auch nützlich? Vier Berichterstatter erzählen – über die Geschichte des Dateneinsatzes im Sportjournalismus und über Probleme, den Datenwust dem Pubikum zu vermitteln.
„Das waren noch Zeiten“, sagt Frank Lußem – und lacht. Als er beim „kicker“ zu schreiben begann, kam der Statistik eine minimale Rolle zu, „sie war fast nicht wahrnehmbar“. 1980 wurde Lußem angestellt, heute leitet er die West-Redaktion des Sportmagazins – und muss schmunzeln, wenn er an die Verwendung von Datenmaterial denkt, damals vor fast 40 Jahren. Eine „Ein-Mann-Dokumentation“ habe der „kicker“ zu dieser Zeit beschäftigt. „Das war alles Handwerk“, sagt Lußem: „Einer aus unserem Team bekam damals immer die Horror-Jobs. Wie viele Gegentore Verein X gegen den Verein Y ingesamt kassiert hat, haben wir ihn zum Beispiel gefragt“.
Und mit diesem Auftrag „hat er sich dann im Keller verschanzt, kam nach zwei Tagen staubbedeckt wieder heraus und hat uns einen Zettel auf den Tisch gelegt“, erzählt Lußem. „Man konnte nur hoffen, dass es korrekt und nicht seiner Müdigkeit wegen fehlerhaft war.“
Zahleneinsatz? Im Promillebereich
In den USA griffen Journalisten schon viel früher auf Datenmaterial zurück. „Mit dem typisch deutschen, müden Achselzucken haben wir das abgetan“, sagt Lußem. „Zur Not haben wir gesagt, Statistiken seien im Fußball gar nicht sinnvoll anwendbar. Der Stellenwert von Zahlen lag in unserer Arbeit prozentual im Promillebereich.“ Mittlerweile ist das anders. Seit 2004 besitzt der „kicker“ eine eigene Datenredaktion. „Damals wurde beschlossen, dass im Bereich der Statistik dringend nachzubessern sei“, erklärt Christoph Huber, der seit 2008 als Leiter dieser Abteilung vorsteht. „Daten und Statistiken hatten in Deutschland an Bedeutung gewonnen. Und da die technischen Voraussetzung gegeben waren, konnten wir eine Datenbank eröffnen.“
So sei das Arbeiten effizienter und besser geworden, sagt Huber. Der Mehrwert des mittlerweile massiv angewachsenen Datenwusts liegt für ihn auf der Hand: „Heutzutage kann ein Journalist seine subjektiven Eindrücke, die er in einem Spiel gewinnt, mit objektiven Zahlen untermauern. Das ist besser, als nur – und da will ich den Reportern gar nicht ihre Qualität absprechen – seinem persönlichen Empfinden zu vertrauen.“
Daten „gerechter und einsichtiger“
Wie ein Scout könnten Journalisten Partien nachbereiten – oder die Zahlen zur Vorbereitung auf ein Spiel nutzen. Die tiefschürfende Detailanalyse sei zwar aufwendig, aber mittlerweile möglich. Lußem sieht das ähnlich. „Ohne Frage“, sagt er, „diese Entwicklung ist Gold wert. Sie macht vieles gerechter und einsichtiger.“ Dass Statistiken aber auch Fallen lieferten, denen sich Journalisten bewusst sein sollten, betont er ebenso. „Die herkömmlichen Daten, die häufig genutzt werden, sagen oftmals relativ wenig aus. Denn wenn ein Verteidiger zwar 86 Prozent seiner Zweikämpfe gewonnen hat, seine wenigen Fehler aber gravierend waren und zu fünf Gegentoren geführt haben, dann war die Gesamtleistung schlecht – trotz der hervorragenden Prozentzahl.“
Journalisten bräuchten das nötige Feingefühl, um Zahlen richtig zu deuten – und die sinnvoll nutzbaren herauszufiltern. Beim „kicker“ weisen die Datenredakteure angeführt von Christoph Huber die schreibenden Kollegen auf statistische Auffälligkeiten hin. „Wir sind nicht allein“, sagt Lußem. „Uns unterstützen hervorragende Kollegen, mit denen wir diskutieren können, die uns auf Fehler hinweisen und ihren Job mit unfassbarer Schnelligkeit und Akribie erledigen. Und wenn die Jungs sagen, dass eine Statistik meiner Geschichte helfen könnte, dann verlasse ich mich eigentlich darauf.“ Das letzte Wort hat indes immer der Autor. „Jeder kann frei darüber entscheiden, welche Statistiken er nutzt – und in welcher Regelmäßigkeit“, sagt Huber.
„Journalismus hinkt dem Sport hinterher“
Tobias Escher, Mitbegründer der Taktik-Website „Spielverlagerung.de“, sieht exakt darin ein gravierendes Problem im deutschen Sportjournalismus. Die Verwendung von Datenmaterial werde noch immer recht halbherzig betrieben, sagt er. „Der Sportjournalismus hinkt dem Sport immer ein paar Jahre hinterher. Journalisten bewegen sich häufig noch auf dem Niveau, dass Verein X gegen Verein Y zuletzt immer mindestens ein Tor erzielt hat.“
Die Aussagekraft der verwendeten Daten sei oftmals minimal, kritisiert Escher. „Die Klubs sind da schon deutlich weiter, arbeiten mit komplizierteren Daten. Journalisten fällt es schwer, damit an die breite Masse zu gelangen. Das ginge nur, wenn man sie gut erklären und sehr regelmäßig, immer wiederkehrend in die Berichterstattung aufnehmen würde.“
Escher indes, der als Freier Journalist auch für den „Tagesspiegel“, die „Rheinische Post“ oder über Werder Bremen für die „DeichStube“ schreibt, weiß um die Schwierigkeit dessen. „Deutschland ist kein Statistik-Land“, sagt er. „Anders als in den USA ist hier noch eine Hemmschwelle vorhanden. Statistiken haben – gerade, wenn man sie nicht richtig präsentiert – etwas sehr Trockenes, Steifes, Förmliches.“ Und würden deshalb oftmals stiefmütterlich eingesetzt. Der Mehrwert der Statistik sei groß, meint Escher. Dem Publikum müsse er nur bedacht nahegebracht werden.
Dem Massenpublikum schwer vermittelbar
Mit „Spielverlagerung.de“ bewegt sich Escher in einer Nische. „In richtig guten Monaten – während einer WM oder EM – zählen wir eine Million Aufrufe, ansonsten pendeln wir zwischen 400.000 und 500.000“, berichtet er zwar. Dennoch sei es kein Angebot für die ganz breite Masse. „Dafür ist es zu speziell – und beinhaltet zu viele Zahlen.“ Zuweilen hat Escher mit dem Expected-Goals-Wert experimentiert. Einer Zahl, die angibt, mit welcher Erfolgswahrscheinlichkeit Tore aus den verschiedensten Platzregionen erzielt werden können. „Dem Massenpublikum sind solche Daten nur schwer vermittelbar“, sagt Escher.
Niklas König, Stellvertretender Chefredakteur bei „Goal Deutschland“, stimmt dem zu. „Der Expected-Goals-Wert wie auch einige andere Erhebungen sind durchaus interessant, allerdings bislang eher für den eigenen Hinterkopf.“ Mit seinem Team sitzt König direkt an der Datenquelle von Deutschlands prominentestem Sportdatenzusteller Opta.
König, der bis vor einem halben Jahr noch Bayern München und die Deutsche Nationalmannschaft als Korrespondent begleitete, arbeitet mit seinen Kollegen in München-Unterföhring, nahe der Bahnstation in einem modernen, dreistöckigen Gebäude. Auf Stockwerk zwei im selben Raum haben auch die Opta-Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz. „Wir haben viel miteinander zu tun, klar“, sagt König. „Opta hat uns ein Tool zur Verfügung gestellt, mit denen wir die für uns wichtigen Daten heraussuchen können.“
Diese Datenbank sei bei ihm ständig geöffnet. „Immer, wenn ich ein bestimmtes Gefühl habe, versuche ich das mithilfe der Zahlen nachzuprüfen.“ In seinen Texten setzt König die Daten allerdings nur dosiert ein. „Es stört den Lesefluss massiv, wenn plötzlich ganze Zahlenkolonnen auftauchen. Stattdessen lagern wie die Zahlen aus, erstellen Infografiken.“ Die Statistik sei ein wichtiges Element im Sportjournalismus, sagt König: „Sie nicht zu nutzen, wäre dumm. Übertreiben dürfen wir es aber auch nicht.“ Der richtige Weg, sagt er, liege wohl irgendwo in der Mitte.
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