Schaut man auf die frühen Tage des massentauglichen Internets, also in die 1990er und frühen 2000er Jahre, entsteht ein Gefühl der Nostalgie. Das liegt nicht nur am reduzierten Design der damaligen Websites. Sondern auch am Charme der Prä-Social-Web-Zeit, als sich die Macht der großen Internetgiganten noch nicht herausgeschält hatte und auf Videoplattformen noch „echte“ Nutzer statt bezahlter Influencer dominierten. Und da war natürlich die Verheißung der Internet-Pioniere, das Web werde nun ganze Gesellschaften befreien und wahre Demokratie schaffen. Nüchtern betrachtet wirkte das schon damals übertrieben, heute wissen wir es ohnehin besser. Oder nicht? In einem neuen Buch zeigen die Kommunikationswissenschaftlerinnen Angela Philips und Eiri Elvestad, dass Mythen rund um die emanzipatorische Kraft des Netzes weiterleben – auch im Journalismus. Eine Rezension.
Philips und Elvestad sind freilich angetreten, diese Mythen zu widerlegen. Dabei bedienen sie sich zumindest auf den ersten Blick einer Darstellungsform, wie sie kaum Social-Web-tauglicher sein könnte: dem Listicle. „Seven Myths of the Social Media Era“ ist ihr Buch „Misunderstanding News Audiences“ untertitelt. Allerdings gehen sie auf 180 Seiten wissenschaftlich durchaus in die Tiefe. Philips ist Professorin für Journalismus am Goldsmiths College der University of London, Elvestad lehrt Soziologie am University College of Southeast Norway. Ihr Buch behandelt auch aus anderen Disziplinen und Kontexten bekannte Netz-Narrative konsequent aus der Perspektive der Mediennutzungsforschung. Sie liefern einen detaillierten Überblick über Studien älteren, aber vor allem auch jüngeren und jüngsten Datums.
Das Internet hat nicht die befreiende Wirkung
Das sind die sieben Vorstellungen, die die Autorinnen zu entkräften versuchen:
- Personalisiert ausgespielte Nachrichten verbessern Vielfalt und Pluralität in der Gesellschaft und stärken letztendlich die Demokratie
- Die Grenzen zwischen Journalisten und ihrem Publikum verschwimmen, das Publikum übernimmt zunehmend Aufgaben von Journalisten
- Die digitale Kommunikation fördert das Entstehen einer Schwarmintelligenz und schwächt die Macht herkömmlicher Eliten, also auch der traditionellen Massenmedien
- Das Internet hat ein „globales Dorf“ mit so etwas wie einem weltweiten Nachrichtenpublikum geschaffen
- Online-Communities ersetzen Offline-Communities, die digitale Kommunikation fördert gesellschaftlichen Zusammenhalt besser und nachhaltiger als klassische Massenmedien
- Das Internet führt zu sinkendem Vertrauen in traditionelle Massenmedien, die gegenüber sozialen Medien an Bedeutung verlieren und durch diese ersetzt werden
- Es gibt eine Generation der „Digital Natives“ mit einem „natürlichen“ Verständnis digitaler Kommunikation
Der Tenor von Elvestad und Philips: Das Netz hat nicht die befreiende Wirkung, die ihm gerne zugeschrieben wurde und wird. Das Web hat die Macht alter Eliten nicht gebrochen. Zugleich geben sie aber auch Entwarnung, was den oft diagnostizierten Bedeutungsverlust „klassischer“ journalistischer Medien angeht. Traditionelle Nachrichtenmedien, so die Analyse, werden auch im Social Web gebraucht – und gelten dem Publikum fast überall auf der Welt als glaubwürdigere Nachrichtenquellen im Vergleich etwa zu sozialen Netzwerken. Wenn der Journalismus durch das Web in Gefahr sei, dann nicht, weil klassische Vorstellungen von Journalismus durch die neue Technologie per se überholt seien, sondern weil die Werbeeinnahmen hin zu den großen Internetriesen wandern, führen Philips und Elvestad aus.
Öffentlich-Rechtliche als Heilmittel für die Dysfunktionalität des Netzes?
Ein besonderer Verdienst der Autorinnen liegt darin, dass sie weltweite Studien zusammengetragen haben. Viele Mediennutzungsstudien gerade mit Blick auf soziale Netzwerke beschränken sich auf die USA. Dort jedoch sei das Mediensystem und damit auch das Mediennutzungsverhalten ganz anders als etwa in den meisten europäischen Ländern, argumentieren Elvestad und Philips untermauert durch zahlreiche Studien. Sie führen zum Beispiel die stärker kommerzialisierte Medienlandschaft und das Fehlen eines starken öffentlich-rechtlichen Rundfunks in den USA an.
Überhaupt liest sich ihr Buch in nahezu sämtlichen Kapiteln wie ein Plädoyer für die Öffentlich-Rechtlichen, die aus Sicht der Wissenschaftlerinnen der fragmentierenden und polarisierenden Kraft des Social Web am besten entgegenwirken können. Auf die Kräfte des Marktes vertrauen Elvestad und Philips sichtlich weniger – dass die Nachrichtennutzung in den USA mittlerweile sehr polarisiert ist, führen sie auch auf die dort fehlenden, für Europa typischen Regulierungsmechanismen im Medienbereich zurück. Und am Ende stellen sie die Frage, ob die wichtigsten Kommunikationsplattformen im Interesse der Demokratie wirklich von weltweit tätigen Privatunternehmen betrieben werden sollten.
Schlaue Kontrastierung
Insgesamt gelingt dem Buch eine schlaue Kontrastierung von Verheißungen oder Bedrohungen, für die „das Internet“ im journalistischen Bereich stand und steht, mit tatsächlichen Befunden aus empirischen Nutzungsstudien. An der einen oder anderen Stelle schlagen die Autorinnen jedoch in ihrem Bestreben, Mythen zu widerlegen, über die Stränge. Das gilt insbesondere für das Kapitel, dass die Vorstellung angreift, die Grenzen zwischen Journalistinnen und Nutzerinnen verschwämmen zunehmend; Nutzer würden von Konsumenten zu „Prosumern“.
Korrekt weisen Elvestad und Philips darauf hin, dass es meistens weiterhin klassische Medien braucht, damit Videos etwa von Augenzeugen einer Naturkatastrophe ein wirklich breites Publikum erreichen oder Debatten aus den sozialen Netzwerken in den „tatsächlichen“ gesellschaftlichen Diskurs gelangen. Richtig ist auch, dass sich nur ein verschwindend geringer Anteil der Nutzer in den Prozess der Nachrichtenproduktion einbringt oder auch nur die Kommentarspalten auf Nachrichtenseiten befüllt. Ebenso erscheint das Argument der Autorinnen plausibel, dass Formen der Nutzerbeteiligung oder Social-Media-Posts über wichtige Ereignisse den Journalismus nicht ersetzen werden, auch nicht auf lange Sicht. Allerdings können neue Formen und Möglichkeiten der Publikumsbeteiligung und des – gefragten oder ungefragten – Nutzerfeedbacks den Journalismus durchaus verändern, und zwar nachhaltig. Das wissen sicher auch die Autorinnen, würdigen dies aber leider kaum.
Die Macht der Emotionen
Doch wer sich als Journalist konstanter Echtzeit-Kritik – ob konstruktiv oder nicht – ausgesetzt sieht, wird sich möglicherweise anders verhalten als noch ein Kollege vor anderthalb Jahrzehnten, der vielleicht ein paar Tage nach einer Veröffentlichung ein paar empörte Zuschriften erhielt, die noch dazu selten die Massenwirkung erhielten wie ein für alle sichtbarer Shitstorm im Twitter-Feed. Da hilft es auch nichts, dass es verschwindend wenige Nutzer sind, die sich an Nachrichtenproduktion oder Medienkritik beteiligen – in der algorithmenbasierten Dynamik des Netzes zählt freilich, wer am lautesten und emotionalsten schreit, wie auch Elvestad und Philips an anderer Stelle ausführen. Oder, positiver gesagt: Wo Reporterinnen mehr und schnellere Quellen zur Verfügung haben und Nutzerinnen Daten für Crowdsourcing-Recherchen mit vergleichsweise wenigen Klicks zusammentragen können, wird das auch journalistische Routinen verändern.
Bestärkt die Netzlogik nur die eine ideologische Richtung?
Freilich war es naiv zu glauben, dass nur das Internet als Werkzeug benötigt wird, damit sich alle Menschen an Meinungsbildung und Nachrichtenproduktion beteiligen. Aber dass dies nun mehr Menschen schneller und unmittelbarer tun können, ist weder am Journalismus noch an der Gesellschaft spurlos vorübergegangen.
Die These, dass das Netz kosmopolitisch-liberale Vorstellungen in den Hintergrund dränge und solche politischen Gruppen und Ideale befördere, die für Abgrenzung und Nationalismus stehen, erscheint nachvollziehbar – schließlich haben die Autorinnen ihr Buch unter dem Eindruck des Wahlsiegs von Donald Trump und des Brexit-Referendums vollendet. Ihr Argument: Algorithmen bevorzugten enge Verbindungen, statt Differenzen zu überbrücken. Die mannigfaltige Kritik an der hier zugrundeliegenden These von Echokammern und Filterblasen mal hintangestellt: Das mag so sein – doch sicherlich bestärkt die Logik des Netzes dann nicht nur nationalistische Narrative, sondern eben auch die Verärgerung und Polarisierung der „Gegenseite“, die Elvestad und Philips als kosmopolitisch verstehen.
Stärkt die Netzlogik Rhetoriken der Abgrenzung?
Nun mag man eine Rhetorik der Abgrenzung für normativ problematisch halten, dem gesellschaftlichen Zusammenhalt ist aber eine Polarisierung in jede Richtung und vor allem in alle Richtungen gleichzeitig abträglich. Dass sich jedoch auch die „Kosmopoliten“ – mit wie viel Fug und Recht auch immer – durch die Netzlogik abgrenzen und in ihrem Gruppenzusammenhalt bestärken könnten, ignorieren die Autorinnen. Ein Beispiel für die Polarisierung auch dieser Seite ist die Twitter-Wut gegen die Wochenzeitung „Die Zeit“, die in einem zweifellos sehr unglücklich betitelten und bebilderten Beitrag das Für und Wider privater Seenotrettung von Flüchtlingen diskutierte. Eine sachliche Diskussion über den von der Autorin Mariam Lau verfassten Contra-Artikel war anschließend kaum möglich.
Überhaupt bleiben Elvestad und Philips bei der Frage, inwiefern der wachsende Erfolg populistischer Politiker und Parteien in vielen Ländern durch die Logik des Netzes befeuert wird, erstaunlich unentschieden. Zum einen treten sie – zu Recht – dem Eindruck entgegen, es seien nun Algorithmen und „Fake News“, die ganze Wahlkämpfe entschieden. Zum anderen aber betonen sie doch die gefährliche spalterische Kraft der Selektionslogik im Netz, um dann die weiterhin große Bedeutung und integrative Funktion klassischer Massenmedien zu betonen. Diese Unschärfen mögen auch daran liegen, dass zu den neueren Entwicklungen nur wenige Studien vorliegen und es nach US-Präsidentschaftswahlkampf und Brexit-Referendum schwer war, sich immer neuen Berichten über die dunkle Seite des Netzes zu entziehen, wie Elvestad und Philips selbst schreiben.
Eine erst nach Erscheinen des Buches veröffentlichte Studie kam immerhin zu dem Schluss, dass liberalen und konservativen Wählern in den USA bei der Suche nach Beiträgen über Hillary Clinton und Donald Trump auf Google News ähnliche Artikel empfohlen wurden. Zu hoffen bleibt also, dass ausgerechnet die Autorinnen eines Anti-Mythen-Buches den Einfluss digitaler Kommunikation auf das Erstarken nationalistischer Bewegungen übertreiben.
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