Facebook hat ein Luxusproblem. Zu viele Menschen, zu viele Unternehmen nutzen es, schreiben Beiträge, posten Memes und schalten Werbung. Der Newsfeed der Nutzer droht überzulaufen. Die Lösung: Ein Algorithmus, der die relevanten Beiträge schon vorab filtert. Gezeigt wird nur das, was den Nutzer interessieren könnte. „Relevanz“ und „Interesse“ definiert Facebook allerdings selber – mit Hilfe von über 100.000 Faktoren. „Big Data“ wird „Smart Data“, die Idee dahinter ist allerdings alles andere als neu und funktioniert bereits seit Jahrzehnten in Bereichen fernab vom Silicon Valley – zum Beispiel im Kühlregal. Das Problem: Facebook ist mehr als ein Supermarkt. Es geht nicht um Erdbeerjoghurt mit oder ohne Stücken. Es geht um unsere Freiheit. Je mehr vorab ausgewählte Auswahl, Relevanz und Interesse, desto enger unser Horizont. Ein Gedankenexperiment.
Stell dir vor, es ist das Jahr 1957. Wir befinden uns in Köln, wo heute der erste Supermarkt in Deutschland seine Türen öffnet. Das ist wirklich so geschehen, doch diese Geschichte ist anders, sie ist frei erfunden. Denn in dieser Erzählung heißt der Gründer nicht Herbert Eklöh, sondern Mark Zuckerberg, der alles verändern wird – dieses Mal nicht mit einer Website namens „Facebook“, sondern 47 Jahre früher mit einem Supermarkt.
Das große, blaue „F“ leuchtet das erste Mal in der Morgendämmerung und zieht die Bewohner auf die Verkaufsfläche. Der Laden ist neu, groß und irgendwie stilvoll. Statt auf persönliche Beratung im Tante-Emma-Laden, setzt Zuckerberg auf Vielfalt. Und hat Erfolg. Immer mehr Menschen besuchen seinen Laden und wollen vor allem die neuen Erfrischungsgetränke sehen, die „F“ im Sortiment hat. Zu Beginn beliefern eine Handvoll Getränkehersteller Zuckerbergs Laden – vor 60 Jahren ein Novum. Die Verkaufszahlen schießen schnell in ungeahnte Höhen.
Eine Win-Win-Win-Situation. Für die Kunden, für Zuckerberg selber und für die Zulieferer. Einige Jahre später endet der Höhenflug jedoch. Ja, „F“hat so viele Kunden, wie nie zuvor und ja, das Sortiment ist noch viel größer als zu Beginn. Die Verkaufszahlen der Erfrischungsgetränke steigen jedoch nicht mehr. Im Gegenteil, sie fallen. Anders als in der Geschichte, sind schrumpfende Absatzzahlen bei einem Überangebot in der Realität nachweisbar. In der Wissenschaft spricht man vom Paradox of Choice, das tatsächlich auf einem Feldversuch im Supermarkt basiert: dem Konfitüren-Experiment.
Die Qual der Wahl und ihr Betäubungsmittel
Im Jahr 2000 stellten die beiden amerikanischen Forscher Sheena Iyengar und Mark Lepper in einem Delikatessengeschäft in Kalifornien gewöhnliche Probiertische auf. Dort konnten Kunden verschiedene Marmeladensorten testen. In einer Versuchsanordnung präsentierten die Forscher den vorbeigehenden Kunden sechs verschiedene Sorten zum Probieren, in einer anderen waren es 24 – vier mal so viele. Das verblüffende Ergebnis: Zwar lockte die größere Auswahl 60 Prozent aller Kunden an, während bei der kleinen Auswahl nur 40 Prozent der Kunden stehen blieben. Diese nahmen jedoch in zwölf Prozent der Fälle ein Glas mit zur Kasse. Bei der größeren Auswahl lag die Verkaufsquote bei nicht mal zwei Prozent.
Der deutsche Wissenschaftsjournalist Bas Kast schreibt in seinem Buch „Ich weiß nicht was ich wollen soll?“, dass der chronische Überfluss uns Menschen demotiviert und in unseren Entscheidungen lahmlegt. Mit jeder zusätzlichen Möglichkeit wächst die Angst, sich falsch zu entscheiden. Denn die Wahl für eine Marmelade bedeutet gleichzeitig, die Wahl gegen 23 andere. Die Qual der Wahl ist eine Umsatzbremse.
Deshalb reagiert der Supermarkt „F“ in unserer kleinen Geschichte. Die Zeit, in der jedes Erfrischungsgetränk je nach Lieferzeitpunkt einfach in das Regal geräumt wurde, ist vorbei. Qualität vor Quantität, lautet das neue Motto. Dazu betreiben Gründer Zuckerberg und sein Filialleiter Marktforschung, befragen Kunden nach ihren Vorlieben, überprüfen Verkaufszahlen und erstellen so eine detaillierte Rangliste der beliebtesten Erfrischungsgetränke je nach Jahreszeit. Die absatzstärksten Getränke rücken in den Fokus, eher unbekanntere Marken werden gar nicht mehr ausgestellt. Es heißt,„F“ arbeite jetzt für und vor allem mit dem Kunden zusammen. Das gefällt, die Umsätze steigen wieder. Das fröhliche Happy End? Mitnichten. Denn Facebook ist eben mehr als ein Supermarkt.
Der Algorithmus: Grenzen der Freiheit
Der Supermarkt entpuppt sich als größte soziale Plattform der Welt mit über zwei Milliarden aktiven Nutzern. Die Getränkelieferanten sind News-Seiten, Blogger, Medienunternehmen oder auch andere Nutzer, die nicht ihre Erfrischungsgetränke, sondern ihre Beiträge, Videos und Bilder zeigen. Und das Kühlregal ist alles, nur nicht kühl. Es ist der heißgelaufene News-Feed. Immer mehr Menschen, immer mehr Beiträge und eine iPhone-Bildschirmgröße von 5,5 Zoll im Durchschnitt – natürlich stößt das System an seine Grenzen. Diese sollen mit dem Algorithmus durchbrochen werden. Der Preis ist unsere Freiheit. Denn mit jeder technischen Grenze, die der Algorithmus durchbricht, zieht er eine neue um uns und unseren Horizont.
Über 100.000 Faktoren sollen es sein, die darüber entscheiden, welche Beiträge wo angezeigt werden. Einen genauen Einblick in die Funktionsweise gewährt Facebook allerdings niemandem. Der Algorithmus ist für Facebook das, was die originale Rezeptur für Coca Cola ist. Das Alleinstellungsmerkmal. Ungemein mächtig. Und ein großes Geheimnis. Bekannt sind nur Teile. Beim Algorithmus sind es vor allem sein sich ständig wandelnder Charakter und die Basis: „Relevanz“und „Interesse“.
Im Schnitt hat jeder der über zwei Milliarden Nutzer 300 Facebook-Freunde. Der Algorithmus bewertet die Qualität dieser Freundschaften – auch deine. Facebook misst, wie häufig du welche Seiten besuchst, welche Beiträge du kommentierst oder mit „Gefällt mir“ markierst. Selbst die Zeit, die du damit verbringst einen Beitrag zu lesen, wird gemessen. Wie schnell du deinen News-Feed nach unten scrollst, wird ebenfalls erfasst. Facebook weiß auch, mit wem du schreibst und zu welcher Zeit.
Die 19 Milliarden Dollar, die Mark Zuckerberg im Jahr 2014 für Whatsapp zahlte, verlieren in diesem Kontext ihre Dimension. Mehr noch, sie wirken fast mickrig im Vergleich zu den 60 Milliarden Nachrichten, die wir jeden Tag über Whatsapp verschicken. Denn mit jeder Nachricht wächst die Datenmenge, das Nutzerverhalten wird berechenbarer und Facebook somit immer attraktiver für Werbetreibende. Kurzum: Facebook ist nicht nur eine gigantische Datenkrake, sondern auch ein Meister im Fährtenlesen. Und unser digitaler Fußabdruck ist groß. Sehr groß.
„Es ist so bequem, unmündig zu sein“
Die Frage ist, ob wir deshalb vor Facebook fliehen müssen. Schließlich ist es doch schön hier. Denn mit jeder Information mehr, die Facebook über dich sammelt, wird es komfortabler. Dinge, die du magst, erscheinen dort, wo du sie auch sicher findest. Menschen, die dich interessieren, werden zu den Protagonisten deines News-Feeds. Und alle Dinge, die dich wütend oder traurig machen, haben keinen Platz mehr auf deinem Bildschirm. Facebook will nicht ärgern, sondern schmeicheln. Die Informationen richten sich nur nach dir. Es ist eine individualisierte Massenproduktion für die Facebook keinen Cent von dir will. Aber es ist nicht kostenlos. Facebook will Kontrolle und ist der Gegenentwurf zum „Sapere aude!“
„Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, lautet Immanuel Kants Leitspruch der Aufklärung aus dem Jahr 1784. Heute, 234 Jahre später, klingt dieser Aufruf wie ein verzweifelter Hilfeschrei. Kant sprach von „Faulheit“ und „Feigheit“, die in einer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ enden. Facebook nennt es Individualisierung, Benutzererlebnis und Nutzerwunsch. Kein Wunder, denn „es ist so bequem, unmündig zu sein“, schrieb Kant. „Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann“, stellte er fest.
Doch nur wer fordert, kann fördern. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit der Gegenseite, der Diskurs und andere Sichtweisen. Das gibt es auf Facebook nicht. Zumindest nicht für dich. Du findest kein „Nein“, sondern ein „Ja, du hast recht.“ Immer und immer wieder. Du findest in deinem Supermarkt namens Facebook nichts, was dir nicht gefällt. Die Regale sind voll mit deinen persönlichen Lieblingsspeisen. Mit der Limonade, die du so gerne magst. Du liebst Pizza und Cola über alles? Du bekommst Pizza und Cola in allen Facetten, die du dir nur erträumen kannst. Keine Spur von Spinat, vom Grünkohl oder Walnusskernen – diese Dinge magst du doch eh nicht, oder?