Interviews

„Ein Journalist muss kein absoluter Nerd sein“

Virtual Reality ist ein Thema, das mehr und mehr Präsenz erlangt. Was können die großen schwarzen Brillen, die uns eine Realität zeigen, die so nicht oder nicht mehr existiert? Kann Virtual oder Augmented Reality auch ein Instrument für den Journalismus sein? Im Interview erzählt David Orhndorf (WDR) von seinen Erfahrungen.

von Antonius Tix und Paul Klur

Könnte es sein, dass wir in fünf Jahren alle mit der Virtual-Reality-Brille am Frühstückstisch sitzen?

Ohrndorf: Ich weiß nicht – für den Frühstückstisch ist die VR-Brille nicht so cool, weil du abgeschlossen bist und den Vorhang komplett um dich herum hast. Du steigst komplett in eine andere Welt ein. Da musst du dich nicht an den Frühstückstisch setzen, sondern kannst auch in den Keller gehen weil du ja nichts außenherum siehst. Ich glaube, wenn wir wirklich darüber sprechen, was massentauglich ist, was meine Mutter denn möglicherweise benutzen würde, dann würde die sich diese Brille sicher mal angucken – aber ich glaube, sie würde das im Alltag nicht nutzen, weil das diese Abschirmung vom Rest der Welt erzeugt.  Ich denke, und das ist auch die gängige Meinung, dass die AR – also die „Augmented Reality“ – das Zukunftsmodell sein wird. Bei diesen Brillen kannst du durchgucken und trotzdem alle Leute sehen, die hier sitzen. Das heißt, du kannst am Frühstückstisch sitzen und dir nebenbei noch Infos dazu holen. Ich glaube, dass diese VR-/AR-Technik, wie auch immer das dann in Zukunft heißt, bleiben wird. Denn Erlebnisse zu ermöglichen, die sonst nicht so stark an dich herankommen, das wird sich durchsetzen.

Wenn man „Virtual Reality“ zum ersten Mal erlebt, ist das ja ein starkes Gefühl. Wie war denn Ihr erstes Erlebnis mit VR?

Ich erinnere mich, wir haben relativ früh eine Brille fürs Handy bekommen. Da gab es eine kleine Plattform mit ein paar Reisevideos, und ich reise selbst gerne. Ich war vor zwei oder drei Jahren mal in Myanmar, das hat mich ziemlich begeistert. Es gab dann so ein kleines Video aus Rangun, das habe ich mir angeguckt, und da war ich echt geflasht. Ich hatte schon viele Sachen vorher gesehen, was 360°-Fotos angeht, aber dieses Gefühl, wirklich da zu sein, Erinnerungen wachzurufen – das kam direkt wieder hoch. Ich bin per se kein wahnsinnig emotionaler Mensch, aber das war schon sehr beeindruckend, wie die Immersion funktioniert hat. Das ist natürlich der Erstnutzer-Effekt, alle sagen dann „Wow, ist das toll!“. Nach einer Zeit nutzt sich das dann ab und du musst gucken, dass du diesen Effekt mit einem coolen Inhalt und einem gewissen Mehrwert füllst. Einfach nur die Kamera irgendwo hinzustellen und 360° aufzunehmen – da ist der Effekt nicht so groß.

Was wäre so ein Mehrwert, den man über dieses erste Erlebnis hinaus vermitteln könnte?

Wir haben beim Dom – das ist jetzt das Projekt, zu dem ich am meisten sagen kann – eine Liste gemacht mit bestimmt 50 möglichen Episoden, die man machen könnte. Wir haben uns zu jeder Episode überlegt: Bringt das was? Kann man das gut anteasen und hat das dann noch einen Mehrwert, den du nur in VR machen kannst und der dem Zuschauer noch was bringt? Wir haben zum Beispiel eine Zeitreise als Episode. Da stehst du auf dem Roncalliplatz – also neben dem Dom, in der Jetztzeit. Dann kannst du eine Taste drücken und stehst exakt an derselben Stelle in der Nachkriegszeit. Der Dom steht an derselben Stelle. Aber um dich herum ist der Teil, wo jetzt Gebäude stehen, extrem zerbombt. Dann kannst du nochmal auf einen Knopf drücken und du stehst im Mittelalter.  Und diese Zeitreise so immersiv zu erleben, diesen Wechsel zu haben und wie sich dieser Ort anfühlt, ist ziemlich beeindruckend. Das hat uns auch viele graue Haare gekostet, weil die Produktion von den Inhalten nicht so einfach war. Die sollten ja auch zumindest einfachen Überprüfungen von Archäologen und Leuten, die sich auskennen, standhalten. Wir wollten eine plausible Rekonstruktion. Du könntest das natürlich auch im flachen Fernsehen machen. Aber das ist dann halt mit dem Wohnzimmer drumherum nicht so intensiv. Wenn du die Brille um dich hast und perfekt drin bist, ist der Eindruck viel besser. Das zieht dich viel mehr rein, und das ist ja eigentlich immer das, was du willst. Egal, ob du jetzt zum Beispiel fernsiehst oder Radio hörst.

Lassen sich damit auch Themen umsetzen, die nicht so spannend sind wie der Kölner Dom?

Ist der Kölner Dom spannend? Da haben wir schon auch drüber diskutiert. Im Endeffekt ist es glaube ich so, weil die Geschichten, die wir da ausgegraben haben, spannend sind. Ich glaube, im Endeffekt kommt es auf die Aufarbeitung und das Storytelling an. Wenn du langweilige Orte filmst, ist das halt auch langweilig. Ein Beispiel: Alle Fernsehleute sind im Moment heiß darauf, in 360° live zu streamen. Zu den Olympischen Spielen gab es erste Experimente damit, dass du zum Beispiel auf diese Weise Beach Volleyball sehen konntest. Am Rand des Feldes haben die sechs oder acht Kameras aufgestellt. Die Standorte waren aber todlangweilig, weil die total weit weg waren. Spannend wäre eine Kamera oben am Netz, aber da durften sie keine hinstellen, weil das ein Eingriff in das Spiel gewesen wäre. Also konntest du dir die Zuschauer beim Essen ansehen aber nicht viel vom Spiel. Beach Volleyball ist eigentlich per se spannend, aber wenn du die Kameras an den falschen Ort stellst, kannst du das auch langweilig machen. Wenn du einen guten Dreh hast, kannst du aber auch die langweiligen Themen spannend machen, unabhängig von VR. Ich hab lange bei „Markt“ gearbeitet als Fernsehautor für Wirtschaftsmagazine, wo du per se oft langweilige Themen hast. Und dann gab es mal diesen Trend, alles mit Playmobilfiguren zu bauen. Ich würde heute nicht mehr sagen, dass das wahnsinnig innovativ ist. Aber das ist vielleicht auch schon eine gute Umsetzung, um eine Mehrwertsteuererhöhung zu erklären, obwohl das erstmal ein langweiliges Thema ist.

Wenn ich jetzt beispielsweise eine Ratssitzung oder einen Ausschuss nehme, dann ist das mit VR genauso schwer umzusetzen wie mit anderen Darstellungsformen auch, oder nicht?

Bei so einer Ratssitzung fände ich es spannend. Ich glaube, viele Leute wissen gar nicht, wie es da abläuft. Ich habe auch lange Lokaljournalismus gemacht, war beim Lokalradio in Siegen. Und in Ratssitzungen gab es diese Eingewöhnungsphase: Wie funktioniert das? Wieso darf der jetzt dazwischen quatschen und der nicht? Ich fand das schon relativ spannend, aber erst, nachdem ich kapiert hatte, wie es funktioniert. Und wenn du da einen coolen Weg finden würdest, das in VR umzusetzen – so, dass normale Leute eine Aufnahme von der Ratssitzung sehen und verstehen, wie sie das jetzt betrifft – wäre das gut. Also warum auf meiner Straße jetzt Tempo 30 ist und wie die Diskussion in der Ratssitzung war, das wäre schon spannend. Aber das wäre auch als Fernsehstück spannend oder als interaktives Multimedia-Online-Projekt. Ich kann mir auch eine Ratssitzung spannend vorstellen, wenn man sie den Leuten nahebringt. Und dann vielleicht auch in VR. Wobei bei VR natürlich viel über das Bild funktioniert und das Bild in einer Ratssitzung nicht so spannend ist. Aber du könntest was mit Animationen machen, zum Beispiel die Straße simulieren – einmal mit Tempo 30, einmal mit Tempo 50. Das wäre eine Möglichkeit. Also den Kern rausziehen und gucken, wie man den gut umsetzen könnte.

Neben VR waren Sie ja auch bei der Entwicklung des Multimedia-Storytelling-Tools Pageflow beteiligt. Das ist noch mal etwas ganz anderes. Wie haben Sie sich die technischen Kompetenzen dafür angeeignet?

Ich bin immer schon sehr technikaffin gewesen. Früher beim Lokalradio habe ich meine Beiträge zum Beispiel selber zu Hause am Computer geschnitten, als in der Redaktion noch Bandmaschinen genutzt wurden – einfach weil ich mich dafür interessiert habe. Und dieses Interesse an Technik besteht bis heute. Allerdings habe ich Pageflow natürlich nicht selbst programmiert. Ich habe eher Ideen entwickelt, wie so ein Tool sinnvoll funktionieren kann. Dabei hatte ich gute Beispiele als Vorbild: die Geschichte „Snow Fall“ von der New York Times und „Firestone“ vom Guardian. Für diese einzelnen Stories haben die allerdings eine Menge Geld in die Hand genommen. Bei Pageflow war klar, dass wir ein Tool entwickeln wollen, mit dem man einfach immer neue Geschichten machen kann.

Nicht jeder Journalist ist unbedingt so technikaffin wie Sie. Gibt es Grundkompetenzen, die jeder Journalist heutzutage mitbringen muss?

Ich habe schon häufiger Kollegen erlebt, denen es an Offenheit fehlte. Das finde ich schade. Wenn du versuchst, das, was du in einem Medium gelernt hast, eins zu eins in ein neues zu übertragen, wirst du eigentlich immer Schiffbruch erleiden. Wenn zum Beispiel ein Kollege einen fünfzehnminütigen Radiobeitrag in Pageflow umsetzen möchte und seine einzige Idee ist, drei Mal fünf Minuten des Beitrags mit irgendeinem Archivbild zu verbinden, ist das nicht der Sinn von Pageflow. Dann hört man den Beitrag lieber gleich am Stück in der Mediathek. Also offen zu sein, mal etwas Neues zu probieren und sich auch einzugestehen, dass man neue Formate erst mal kennenlernen muss – das müssen meiner Meinung nach Journalisten heutzutage können.

Welchen Rat würden Sie Journalisten in der Ausbildung mitgeben?

Up to date zu bleiben. Und das ist nicht immer ganz einfach. Für VR ist zum Beispiel eine internationale Facebook-Gruppe die beste Quelle für neue Infos. Da muss man aber sehr regelmäßig reinschauen. Noch ein Beispiel: Das erste größere Projekt, das wir in 360° gemacht haben, war Tschernobyl. Dort wollten wir eigentlich auch 360°-Ton aufnehmen, aber das unterstützte zum Zeitpunkt der Dreharbeiten noch keine Plattform. Als das Projekt dann fertig war, hatte YouTube gerade möglich gemacht, dort auch 360°-Ton hochzuladen. So schnell kann das gehen. Außerdem ist ein guter Rat, sich viele gute Beispiele anzuschauen. Man darf das aber auch alles nicht zu negativ sehen. VR bietet zum Beispiel die Möglichkeit, mit recht günstigen Mitteln Themen auf eine Weise umzusetzen, wie es vorher noch niemand getan hat.

Trotzdem: Glauben Sie, dass Journalisten in Zukunft IT-Experten sein müssen, um ihren Job zu behalten?

Das ist immer so eine Mischung. Ich fühle mich im Moment schon etwas zu viel als IT-Experte und Technik-Nerd. Ich möchte eigentlich wieder mehr journalistisch arbeiten. Ich glaube, meistens reicht es, zu verstehen, wie die Technik funktioniert, perfekt beherrschen muss man sie nicht. Man muss glaube ich auch in Zukunft nicht zum absoluten Nerd werden, um als Journalist erfolgreich zu sein.