Digitalisierung als Allheilmittel?

Die elektronische Patientenakte und seltene Erkrankungen

Marie Stapel

24. Juli 2019



Die ePA aus Sicht von Betroffenen | Angehörigen | TK - Krankenkasse | Ärzten | Forschung | Sicherheitsanalysten | Zum Kommentar

Die elektronische Gesundheitskarte, Health Apps und der Teledoc. Alles deutet darauf hin: die Digitalisierung im deutschen Gesundheitssystem ist nicht mehr aufzuhalten. 2021 soll mit der Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) ein Wendepunkt in der Versorgung von chronisch Kranken und Patienten mit seltenen Erkrankungen erreicht werden. Marie Stapel hat mit Betroffenen und Experten gesprochen und herausgefunden, ob die ePA für diese Patienten das Allheilmittel ist.

Wenig Patienten, viele Daten

Nichts Neues für sie. Die schneeweißen Kittel. Der beißende Geruch von Desinfektionsmittel. Das ununterbrochene Klackern von Fingern auf der PC-Tastatur. „Was mache ich nur mit Ihnen?“ Seit sieben Jahren fühlen sich für Luisa (Name geändert) Arztpraxen wie ihr zweites Zuhause an. Sie ist eine von 4 Mio. Patienten, die in Deutschland unter einer seltenen Erkrankung leiden. Insgesamt sind ca. 8000 unterschiedliche seltene Erkrankungen bekannt. Die Diagnose sowie die Behandlung, stellen viele Ärzte vor große Herausforderungen, denn die Ursachen sind meistens wenig erforscht.

„Gehen Sie doch mal zum Psychologen!“, ist wohl der häufigste Satz, den sie von verschiedenen Ärzten gehört hat. Aus Verzweiflung hat sie sich selbst im Internet auf die Suche gemacht und ist so auf die seltenen Erkrankungen aufmerksam geworden. Der Austausch mit Gleichgesinnten in einer Selbsthilfegruppe hat sie bestärkt, sich ihre Vermutung ärztlich bestätigen zu lassen. In der Hand hält sie einen dicken Aktenordner. Die Papierflut darin ist eine Ansammlung von Arztbriefen, Diagnosen und eigenen Aufzeichnungen über ihren Krankheitsverlauf der letzten sieben Jahre. Hoffnungsvoll überreicht sie dem Arzt den Ordner. Er legt die Stirn in Falten: „Wie soll ich diesen Berg an Daten denn in den 7 Minuten, die ich pro Kassenpatient habe, durcharbeiten?“

Luisas Fall steht sinnbildlich für viele tausende von Patienten, die täglich in Wartezimmern sitzen und vergeblich auf Unterstützung auf dem Weg zu ihrer Diagnose hoffen. Früher oder später landen die meisten von ihnen mit ihren dicken Patientenakten in einem der deutschlandweit 32 Zentren für seltene Erkrankungen. Hier nehmen sich die Ärzte Zeit, um sich gemeinsam durch die Patientenakten zu kämpfen und den Patienten möglichst schnell zu helfen. Doch die Wartelisten sind oft immens lang.

Ab 2021 plant Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die flächendeckende Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) in Deutschland. Darin sollen alle Gesundheitsdaten der Patienten lebenslang digital gespeichert werden und für alle behandelnden Ärzte abrufbar sein. Patienten sollen außerdem die Möglichkeit haben, über ihr Tablet oder Smartphone Zugriff auf die Akte zu bekommen. Kann die ePA die Situation von Patienten mit seltenen Erkrankungen verbessern?



Das macht mir riesen Bauchweh.

—Sonja Böckmann

Sonja Böckmann leidet unter der seltenen Erkrankung Syringomyelie. Ihre Krankheit bezeichnet eine Höhlenbildung im Rückenmark, was den Fluss des Nervenwassers durch den Körper stört. Die Folge: der Druck im Kopf steigt. Die Symptome sind vielfältig. Von diffusen Schmerzen, über Gleichgewichts- bis hin zu Konzentrationsstörungen. Heiß und kalt zu unterscheiden, fällt ihr schwer.
Schon als Kind plagen sie gesundheitliche Probleme, die die Ärzte als psychische Störung abtun. 2010 macht ein Autounfall die Beschwerden so unerträglich, dass sie die Suche nach einer Diagnose selbst in die Hand nimmt. Eine Odyssee von Arzt zu Arzt beginnt, bei der sie „heftige Erfahrungen vom Rausschmiss bis zum Verständnis macht“.
Letztendlich bringt der Hinweis einer Bekannten und eigene Recherchen im Internet Klarheit. Spezialisierte Neurochirurgen im Bundeswehrkrankenhaus Ulm beenden 2013 ihren Leidensweg. Als ständigen Begleiter auf ihrem Weg zur Diagnose sind kräftezehrenden Kämpfe mit der Krankenkasse.
Die Diskussion um die Einführung der elektronischen Patientenakte ist für sie noch Neuland.



Alles müssen die Ärzte nicht sehen.

—Jean-Jacques Sarton

Mit 63 Jahren bekommt die Frau des gebürtigen Franzosen Jean-Jacques Sarton die Diagnose Morbus Parkinson. Doch im Unterschied zu den anderen 400.000 Menschen, die in Deutschland daran leiden, verschlechtert sich ihr Zustand innerhalb von wenigen Jahren sehr schnell. Depressive Verstimmungen, verschwommenes Sehen, bis zu 4-6 Stürze nach hinten pro Tag und psychotische Schübe gehören ab jetzt zum Alltag des Ehepaars dazu. In der Hoffnung seine Frau vor den gefährlichen Stürzen bewahren zu können, recherchiert Sarton nach geeigneten Hilfsmitteln und wird dabei auf die seltene Form der Parkinson-Erkrankung PSP – progressive supranukleäre Blickparese - aufmerksam. Im Gespräch mit behandelnden Neurologen weist er mehrmals auf seinen Verdacht hin. Doch sie ignorieren ihn. Erst ein Aufenthalt in einer spezialisierten Klinik südlich von München bestätigt den Verdacht. Im Februar 2019 verstirbt seine Frau von ihrer Erkrankung geschwächt an einer Grippe.
Die Debatte um die elektronische Patientenakte in Deutschland verfolgt der ehemalige Informatiker mit großem Interesse. Ob eine digitale Patientenakte seiner Frau den Leidensweg erspart hätte?



Wenn wir die digitale Patientenakte nicht anbieten, dann werden unsere Versicherten unter Umständen auf irgendwelche Amazon- oder Google–Apps zugreifen. Und die sind nicht sicher.

—Barbara Steffens

Die Grünenpolitikerin und frühere NRW-Ministerin für Gesundheit, Barbara Steffens, leitet seit Juli 2018 die Landesvertretung der Techniker Krankenkasse (TK) in NRW. Mit fast 10,5 Mio. Versicherten zählt die TK zu einer der größten gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland. Bei der Einführung digitaler Medizinanwendungen nimmt sie deutschlandweit eine Vorreiterrolle ein. Bereits im November 2018 startete die Diagnose-App „Ada“, die anhand der Symptome des Patienten und der Analyse von unzähligen medizinischen Studien eine erste Einschätzung zur Erkrankung vornimmt. Seit März 2019 läuft nun auch die elektronische Gesundheitsakte „TK-Safe“. Gemeinsam mit IBM Deutschland entwickelte die TK ein auf deutschen Servern liegendes, verschlüsseltes System. Die Nachfrage ist groß: Bereits in der ersten Testphase fanden sich schnell 100.000 Versicherte, die bereit waren TK-Safe zu testen.
Ist die elektronische Patientenakte eine Lösung für die vielen Probleme, die Patienten mit seltenen Erkrankungen im deutschen Gesundheitssystem haben?



Ich glaube, dass es an dem Datenschutz scheitern wird.

—Dr. med. Martin Mücke

Jährlich bis zu 400 Fälle bearbeitet Dr. med. Martin Mücke mit seinem Team als Leiter der „Interdisziplinären Kompetenzeinheit für Patienten ohne Diagnose“ (InterPoD) am Zentrum für seltene Erkrankungen Bonn. Außerdem arbeitet er in einer Hausarztpraxis, die dem Institut für Hausarztmedizin der Uniklinik Bonn angeschlossen ist.
In der Hoffnung endlich eine Diagnose zu bekommen, schicken ihm verzweifelte Patienten kofferweise Befunde und eigene Beobachtungen. Die Papierberge systematisch zu durchsuchen, ist für ihn eine große Herausforderung, für die er sich mehrere Stunden oder auch Tage Zeit nimmt. Zeit, die er in seiner Hausarztpraxis für solche Patienten gar nicht hat. Denn hier bleiben ihm meist nur 7 bis max. 15 Minuten pro Patient.
Die elektronische Patientenakte ist seiner Meinung nach unter den Ärzten noch kein großes Thema. Ob sie für ihn eine Chance darstellt, Patienten schneller zu einer Diagnose zu verhelfen?



Das wirkliche Potential wird sich erst dann ergeben, wenn diese Daten auch für andere Aufgaben genutzt werden.

—Prof. Dr. Martin Sedlmayr

Prof. Dr. Martin Sedlmayr ist seit 2018 Professor für medizinische Informatik an der medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt in der Entwicklung digitaler Assistenzsysteme für die Medizin. Gemeinsam mit seinem Forschungsteam, zu dem auch die Diplom Wirtschaftsinformatikerin Michéle Kümmel zählt, arbeitet er zurzeit an einem vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) geförderten Projekt zum klinischen Nutzen von Big Data bei Patienten mit seltenen Erkrankungen. Das Projekt läuft noch bis zum 28.02.2020. In einem Interview haben die beiden darüber gesprochen, warum Big Data und seltene Erkrankungen kein Widerspruch sein müssen.

Hier geht's zum Interview



Einen Garant für Sicherheit, den gibt es nicht.

—Martin Tschirsich

Martin Tschirsich ist Sicherheitsanalyst der Firma modzero AG. Im Oktober 2018 setzte er sich mit der Sicherheit zahlreicher Gesundheits-Apps auseinander, darunter auch die digitale Gesundheitsakte von gesetzlichen und privaten Krankenkassen „Vivy“. Dabei fand er eine Fülle an Sicherheitslücken, durch die die sensiblen Patientendaten auch von Laien abgegriffen werden können. Anfang des Jahres präsentierte er die Ergebnisse und seine Konsequenzen daraus für die digitale Zukunft in einem Vortrag mit dem Titel „All Your Gesundheitsakten Are Belong To Us“ auf dem 35. Chaos Communication Congress in Leipzig.
Für die 2021 eingeführte elektronische Patientenakte wünscht er sich von der Politik eine stärkere Förderung von Sicherheitsaspekten bei der Entwicklung solcher Gesundheits-Apps und mehr Transparenz bei der Verarbeitung von sensiblen Daten.
Wie geht es ihm persönlich beim Gedanken an die Einführung der elektronischen Patientenakte?



Potential mit Risiken und Nebenwirkungen

Zum jetzigen Zeitpunkt wird immer noch ein großes Geheimnis daraus gemacht, wie die elektronische Patientenakte (ePA) genau aussehen wird. Fest steht nur: sie wird kommen und das ist auch gut so. Vor allem für Patienten mit seltenen Erkrankungen, denn im Moment werden sie noch wie die Waisenkinder des deutschen Gesundheitssystems behandelt. Oft sind sie auf sich allein gestellt, müssen gegen das Schubladendenken der Ärzte und das Unverständnis der Krankenkassen ankämpfen.
Die ePA besitzt aber gerade für sie ein enormes Potential diesen Status zu verlieren, da die digitale Akte den Ärzten und Patienten ein geordnetes Dokumentationssystem an die Hand gibt, Doppeluntersuchungen vermeidet, lange Leidenswege verkürzt, den Arzt mit möglichst vielen Daten versorgt und dem Patienten zu mehr Selbstbestimmung verhilft. Nicht zuletzt freut sich der Arzt über sie, denn mit ihr lassen sich Geld und Zeit sparen. Güter, von denen Patienten mit seltenen Erkrankungen besonders viel verbrauchen. Doch wie jedes medizinische Allheilmittel hat auch die ePA Risiken und Nebenwirkungen.
So kann sie ihre Wirkung für Patienten mit seltenen Erkrankungen sehr schnell verlieren, wenn z. B. weitere Anwendungen, die auf künstlicher Intelligenz beruhen, nicht auf der Patientenakte aufgebaut oder kein entsprechend ausgebildetes Personal zur Pflege der digitalen Akte eingestellt wird. Die Auswertung und Pflege der Daten würde dann in den Händen der Ärzte und Sprechstundenhilfen liegen, die ja jetzt schon mit bürokratischen Aufgaben überlastet sind.

Die versprochene Zeitersparnis erscheint deshalb nur als eine Nebelkerze der deutschen Gesundheitspolitik, um kritische Stimmen aus der Ärzteschaft und von Patientenvertretern ruhig zu stellen. Patienten mit seltenen Erkrankungen erfordern im besonderen Maße den medizinischen Weitblick. Dafür benötigt der Arzt aber Zeit, um sich mit dem Patienten in seiner Gänze und seiner persönlichen Krankengeschichte zu beschäftigen. Schon jetzt stehen die gesammelten Gesundheitsdaten vieler Patienten mit seltenen Erkrankungen analog als Papierstapel zur Verfügung und können trotzdem von den Ärzten nicht gelesen werden. In den deutschlandweit 32 Zentren für seltene Erkrankungen, die sich die Zeit und die Expertise nehmen können, mag die elektronische Patientenakte ein Hilfsmittel im Alltag sein, um schneller noch mehr Menschen helfen zu können. Jedoch landen die meisten Patienten zuerst bei verschiedenen Haus- und Fachärzten, die nicht genug Zeit für sie haben und sie für verrückt erklären. Am festgelegten Zeitkontingent eines Hausarztes von 7 bis 15 Minuten pro Kassenpatient wird auch die elektronische Patientenakte nichts ändern.

Dazu kommt, dass man mit einem als Hilfe gedachten, etablierten Verschlagwortungssystem in der ePA versuchen würde, die Patientengruppe der seltenen Erkrankungen in ein Raster zu pressen. Patienten, die mit den verschiedensten Gesichtern von ca. 8000 wenig erforschten seltenen Erkrankungen in kein Raster passen. Ein wesentliches Merkmal der Patientengruppe wird also zu ihren Lasten völlig ignoriert. Die Folge: trotz ePA werden viele Patienten weiter allein nach ihrer Diagnose suchen müssen.

Der Deutschen höchstes Gut ist die 100-prozentige Sicherheit ihrer Daten. Auch aufgrund der scharfen Kritik von Datenschützern, gibt es die ePA bislang noch nicht. Die Frage ist jedoch, wie sinnvoll es ist, einem Ideal garantierter Sicherheit zu folgen, obwohl es dies im digitalen Zeitalter gar nicht geben kann. Fakt ist: gerade, wenn die Daten von Patienten mit seltenen Erkrankungen in falsche Hände geraten, ist der Schaden immens groß. Die Überlegung, wie dieser in so einem Fall gesellschaftlich abgefedert und der Mehrwert für solche Patienten erhalten werden kann, sollte im Fokus der politischen Diskussion stehen. Damit es am Ende nicht heißt: „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker!“

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