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Shitstorm-Reaction. Ich geh offline – oder vielleicht lieber doch nicht?

Es ist der 07. Januar 2019. Ein Tag, der für die meisten wahrscheinlich nur wenig Bedeutung hat, ist für Grünen-Chef Robert Habeck ein Tag, an dem er eine radikale Entscheidung verkündet. Mit dem Eintrag „Bye-Bye twitter und Facebook“ kündigt er auf seinem persönlichen Blog seinen Ausstieg aus den sozialen Medien an. Die Gründe dafür? Zweierlei:

„Ein Jahresanfang, der in digitaler Hinsicht doppelt daneben war: Erst der Angriff auf die privatesten Daten meiner Familien, die via Twitter veröffentlicht wurden. Dann noch einmal über Twitter ein Fehler meinerseits – und zwar der gleiche zum zweiten Mal: Wie dumm muss  man sein, einen Fehler zweimal zu begehen?“

Robert Habeck

Gemeint sind der Datenskandal, von dem seine engste Umgebung betroffen ist, weil auch ein Teil seiner privatpersönlichen Daten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde und ein Wahlkampfvideo auf dem Twitter-Account des Landesverband Thüringen, in dem er dazu aufruft, die Thüringer im Wahlkampf zu unterstützen – unter anderem mit dem Satz:

„Wir versuchen, alles zu machen, damit Thüringen ein offenes, freies, liberales, demokratisches Land wird, ein ökologisches Land.“

Robert Habeck

Die Folge: Ein Shitstorm. Das Wörtchen „wird“ wird Habeck zum Verhängnis. Denn es impliziert nach der Meinung vieler Kritiker, dass Thüringen noch kein offenes, freies, liberales, demokratisches und ökologisches Land ist.

Ihm sei das schon einmal so passiert, schreibt Habeck auf seinem Blog, in einem Video zur Bayern-Wahl. Auch da habe er schon überlegt, auszusteigen, weil Twitter auf ihn abfärbe.

„Twitter ist wie kein anderes digitales Medium so aggressiv und in keinem anderen Medium gibt es so viel Hass, Böswilligkeit und Hetze.“

Robert Habeck

Auch wenn er damit in den Augen vieler Kritiker Recht haben mag. Ist das wirklich ein Grund, aus den sozialen Medien auszusteigen? Und kann ich mir das als Politiker heutzutage überhaupt noch erlauben?

Über Twitter Wähler erreichen

Uta Rußmann, Senior Researcher an der FHWien der WKW, Fachhochschule für Management und Kommunikation

Für Robert Habeck ist die Antwort ein einfaches „Ja“.  Gegenüber den Kieler Nachrichten sagt er, es gehe ihm bestens. Er habe eine größere innere Gelassenheit gefunden, lese wieder mehr Texte und hänge nicht die ganze Zeit am Handy – auch wenn man sich damit ein begehrtes Kommunikationsinstrument genommen habe. Für viele Politologen, Kommunikationswissenschaftler und Publizisten ist aber genau das der Grund, der es verhindert, mit einem einfachen „Ja“ zu antworten. Twitter diene als wichtiges Instrument, vor allem, um Wähler zu erreichen, die sonst auf anderen Wegen nicht erreichbar wären, so Uta Rußmann, Senior Researcher an der FHWien der WKW, Fachhochschule für Management und Kommunikation:

Uta Rußmann zur Kommunikation mit dem Wähler

„Ich muss micht dahin eben bewegen, wo meine Wählerinnen sind und gerade die jüngeren, da muss ich dahin gehen, wo ich die finde. Und die 16-, 18-, 20-Jährigen finde ich eher bei Instagram, als auf Facebook. Aber eben die eben die etwas älteren, finde ich auf Facebook. Das heißt, ich glaube schon, es ist auch so ein wenig der Punkt, dass quasi, wenn man nicht auf großen neuen Plattformen, wie das derzeit beispielsweise Instagram ist, Präsenz zeigt, dass das dann auch so etwas ist, auf das die Medien sich setzen. Im Sinne von: naja der Politiker, der ist ja überhaupt nicht innovativ, der geht ja gar nicht dahin, wo man heute sein muss auf den Social-Media-Plattformen. Damit man als innovativ auch wahrgenommen wird, als dahin, dass man die Wählerinnen und Wähler ansprechen möchte, damit man mit ihnen in Kontakt geht und sich nicht abschirmt.“

Umfragen zeigen, wie groß das Potential für Politiker und Parteien tatsächlich ist, potentielle Wähler über die sozialen Medien zu erreichen, mit ihnen zu kommunizieren. Während in einer Horizont-Umfrage aus dem Jahr 2017 nur 9 Prozent der Befragten Deutschen angeben, die sozialen Medien zu nutzen, um sich über politische Themen und das politische Tagesgeschehen zu informieren, geben in einer YouGov-Umfrage im vergangenen Jahr bereits 29 Prozent der Befragten Deutschen an, soziale Medien zu nutzen, um sich über das aktuelle politische Geschehen zu informieren. Noch deutlicher wird das Potential der sozialen Medien mit Blick auf die Reichweite einzelner politischer Akteure. So folgen Ex-US-Präsident Obama bei Twitter knapp 107 Millionen Menschen – das entspricht knapp einem Drittel der US-Bevölkerung, oder um es auf europäische Verhältnisse herunterzubrechen: das sind sogar mehr Menschen, als alle Einwohner von Deutschland, den Niederlanden und Luxemburg zusammen.

So folgen Ex-US-Präsident Obama bei Twitter knapp 107 Millionen Menschen – das entspricht knapp einem Drittel der US-Bevölkerung, oder um es auf europäische Verhältnisse herunterzubrechen: das sind sogar mehr Menschen, als alle Einwohner von Deutschland, den Niederlanden und Luxemburg zusammen.

Deutsche Politiker haben weniger Reichweite

Vergleicht man die Reichweiten deutscher Politiker damit, so schneiden diese gelinde gesagt schlecht ab. Martin Schulz kommt mit für einen deutschen Politiker vergleichsweise vielen Twitter-Followern nur auf 698.000, Sarah Wagenknecht landet bei 405.000. Mit der richtigen Social-Media-Strategie wäre jedoch vermutlich deutlich mehr möglich, das zeigen wiederum Nutzer-Zahlen: 2018 waren laut emarketer 5,3 Millionen Deutsche monatlich bei Twitter aktiv, 26 Millionen waren es bei Facebook, was zusammengenommen mehr als 31 Millionen potentielle, aktuelle und zukünftige Wähler ergibt. All diese Menschen könnte ich also als Politiker mit Hilfe weniger Klicks potentiell erreichen. Ich könnte sie innerhalb von Sekunden potentiell alle ansprechen. Ich könnte ihnen mit verhältnismäßig wenig Aufwand, meine politische Agenda näherbringen. Und es gibt bereits viele Beispiele einzelner Politiker, die zeigen, wie gut genau das funktionieren kann.

Marcel Solar, Leiter der Stabsstelle Bürgeruniversität der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Wahrscheinlich wenig überraschend wird an dieser Stelle das Beispiel Donald Trump angeführt, der nicht umsonst auch als „Twitter-Präsident“ bekannt ist. Wohl kaum ein anderes Staatsoberhaupt hat in der Kürze seiner Amtszeit so viele Tweets abgesetzt, wie der Präsident der Vereinigten Staaten. Allein im Jahr 2018 verbreitete Trump über seinen Twitter-Account insgesamt 3.510 einzelne Botschaften – also knapp 10 Tweets pro Tag. Ähnlich aktiv ist er bei Facebook. Auch dort nutzt er Postings in erster Linie dazu, seinen Followern seine politische Agenda näherzubringen und um über die Fortschritte seiner Regierung zu berichten. Darüber hinaus macht er sich aber auch eine andere Funktion der sozialen Medien zu nutze. Laut Marcel Solar, Leiter der Stabsstelle Bürgeruniversität der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, versieht er seine politischen Botschaften auch mit einer persönlichen Handschrift – durch Formulierungen und die Art, wie er die Botschaften präsentiere. Dadurch zeige er auch einen Teil seiner Persönlichkeit. Somit bringe er über die sozialen Medien seinen potentiellen Wählern nicht nur seine politische Agenda und den Politiker „Trump“, sondern auch die Privatperson Trump näher.

Politiker können die Nutzer emotional erreichen

Am Beispiel vieler weiterer Politiker wird deutlich, dass nicht nur Trump diese Mittel für sich entdeckt hat.  Ob Christian Lindner, der ein Foto von sich und seinem Organspendeausweis bei Instagram hochlädt…

…oder Cem Özdemir, der in einem Youtube-Video an der Ice-Bucket-Challenge teilnimmt und dabei vor einer Hanfpflanze posiert…

…sie alle wollen damit vermitteln, dass hinter dem Politiker, der in hitzigen Debatten über Flüchtlingszuströme, die Grundrente und Klimapolitik mitmischt, auch ein Privatmensch steckt. Postings wie diese machen den Politiker greifbar, machen es möglich, dass ich mich als Wähler mit ihm identifizieren kann, lassen ihn wirken wie „du und ich“. Denn was per Foto auf einem einfachen Wahlplakat, über Flyer, oder Gespräche in der Fußgängerzone nur eingeschränkt und wohl kaum wirklich personalisiert funktioniert – das machen die sozialen Medien möglich: den Nutzer emotional ansprechen, ihn emotional erreichen, so Uta Rußmann:

Uta Rußmann zu emotionalen Botschaften

„Wir wissen, dass das politische Spiel immer mehr auf Symbolik setzen muss und auf Emotionen und über Social Media funktioniert das halt wunderbar, weil das hat auch was damit zu tun, dass wir sehen, dass Social Media generell immer mehr Richtung Bild und Video geht und das wird meiner Meinung nach auch noch zunehmen. Ich glaube, Text wird noch marginaler und Bild und Video, vor allem Video, wird noch viel stärker werden in der Präsenz. Und das ist natürlich eine Möglichkeit, Emotionen rüberzubringen und Emotionen bringe ich natürlich mehr über etwas Privates. Und wenn es dann nicht nur etwas Persönliches ist über den einzelnen Politiker, sondern was über das Privatleben, das ist natürlich besonders emotionalisierend – wenn ich darüber zum Vatertag gratuliere und ein Foto zeige von meiner Frau und meinem Kind und am besten noch dem Hund dazu. Ich jetzt persönlich, sage ich mal ganz ehrlich, wäre froh, wenn politische Kommunikation manchmal mehr sachpolitisch wäre. Ich finde, wir driften etwas weit ab häufig von den Sachinhalten. Wenn man aber auf Wählerstimmenfang ist, funktioniert diese emotionale Schiene häufig etwas besser.“

Immer wieder wird an dieser Stelle die Frage laut, ob das der richtige Weg ist, um auf Stimmenfang zu gehen. Ob ich als Wähler überhaupt wissen muss, wo Herr Maas mit seiner Frau Urlaub macht, oder dass Alice Weidel ein neues Buch herausgebracht hat. Ob das zur Demokratie beiträgt. Was das denn überhaupt noch mit der Politik zu tun hat. Und ob da überhaupt noch Zeit für die politische Arbeit bleibt, wenn so viel Zeit dafür verloren geht, den Auftritt in den sozialen Medien zu pflegen. Auch wenn diese Fragen durchaus ihre Berechtigung haben – sie sind nicht erst im Zeitalter der sozialen Medien aufgekommen. Denn das Interesse an der privaten Lebenssituation, an den Hobbys, der Familie oder den Vorlieben der Politiker, das bestand schon weitaus früher in der Geschichte. Auch die Berichterstattung darüber ist nicht neu.

Emotionale Botschaften gibt es in der Politik schon lange

Schon im Oktober 2004 berichtete das ZDF über die Modelleisenbahn in Horst Seehofers Keller. Im selben Jahr, knapp drei Monate zuvor, war Facebook gerade erst gegründet worden, sah bei weitem nicht so aus, wie das heute der Fall ist, hatte nicht die gleichen Funktionen und erreichte auch nicht ansatzweise die heutige Zahl an Mitgliedern. Damit strahlte das ZDF diesen nun ganz persönlichen Einblick in das Privatleben des Politikers aus, lange bevor der Beitrag dann schließlich seinen Weg in die sozialen Netzwerke fand. Um noch ein Stück weiter in der Zeit zurückzugehen: Franz Josef Strauß vermischte bereits 1980 den politischen Wahlkampf mit seiner privaten Lebenssituation, in dem er sich gemeinsam mit Tochter Monika freudig lächelnd auf einem Plakat zur Bundestagswahl zeigte. Dazu der Wahlslogan „Franz Josef Strauß. Kanzler für Frieden und Freiheit“. Ergo ist es also keine völlige Innovation der sozialen Medien, Politisches und Privates zu vermischen, um so neue Wähler zu generieren. Anders ist also in erster Linie nur, dass sich die Kanäle dafür verändert haben.

Schon im Oktober 2004 berichtete das ZDF über die Modelleisenbahn in Horst Seehofers Keller. Im selben Jahr, knapp drei Monate zuvor, war Facebook gerade erst gegründet worden, sah bei weitem nicht so aus, wie das heute der Fall ist, hatte nicht die gleichen Funktionen und erreichte auch nicht ansatzweise die heutige Zahl an Mitgliedern. Damit strahlte das ZDF diesen nun ganz persönlichen Einblick in das Privatleben des Politikers aus, lange bevor der Beitrag dann schließlich seinen Weg in die sozialen Netzwerke fand. Um noch ein Stück weiter in der Zeit zurückzugehen:

Quelle: Konrad-Adenauer-Stiftung, Lizens: KAS/ACDP 10-001: 2204 CC-BY-SA 3.0 DE

Franz Josef Strauß vermischte bereits 1980 den politischen Wahlkampf mit seiner privaten Lebenssituation, in dem er sich gemeinsam mit Tochter Monika freudig lächelnd auf einem Plakat zur Bundestagswahl zeigte. Dazu der Wahlslogan „Franz Josef Strauß. Kanzler für Frieden und Freiheit“. Ergo ist es also keine völlige Innovation der sozialen Medien, Politisches und Privates zu vermischen, um so neue Wähler zu generieren. Anders ist also in erster Linie nur, dass sich die Kanäle dafür verändert haben.

Und noch etwas ist anders: dass der Politiker selbst seine Informationen verbreiten kann und nicht mehr auf einen Mittler – wie Horst Seehofer auf das ZDF – angewiesen ist. Er kann einfach selbst über seine Modelleisenbahn berichten, kann bei Twitter, bei Facebook oder Instagram darüber schreiben, Fotos von sich und seinem Hobby teilen, oder Videos davon posten, wie die Lok am Bonner Bahnsteig an einer Figur von Kanzlerin Merkel in rotem Sakko vorbeidüst. Er kann dann selbst entscheiden, was er zeigt, sagt und tut und wann und in welcher Form er den Inhalt verbreiten will – und das ohne den Weg über eine Redaktion zu gehen. Somit vermeidet er laut dem Politikwissenschaftler Marcel Solar einen zusätzlichen Filter. Denn statt die Redaktion selektieren und auswählen zu lassen, würde der Politiker diese Aufgabe selbst übernehmen. Die logische Schlussfolgerung: die Massenmedien werden als Ausspielkanal hinfällig.

Die Medien filtern im Nachhinein

Das ist jedoch nur in Teilen richtig, denn auf den zweiten Blick wird deutlich, dass die Realität darüber hinaus geht. Auch wenn die Medien im Vorhinein nicht selektieren können, welche Mitteilungen überhaupt veröffentlicht werden sollen und welche nicht. Sie haben laut Marcel Solar zumindest im Nachhinein die Möglichkeit, zu entscheiden, über welche Postings und Statements sie berichtet werden soll und über welche nicht.

„Alle großen Redaktionen folgen den Kanälen von Politkern und Politikerinnen.“

Marcel Solar

Sie haben demnach nach wie vor die Entscheidungsgewalt darüber, wie viel Raum sie der Meldung lassen wollen, haben nach wie vor die Möglichkeit, die Inhalte kritisch zu hinterfragen und sie einzuordnen. Ihre Rolle als Kontrollinstanz würde dadurch also nicht verloren gehen, sie würde sich nur verlagern. Die Redaktionen würden statt im Vorhinein zu selektieren, im Nachhinein einordnen.

Nutzer informieren sich über verschiedene Quellen

An dieser Stelle könnte man argumentieren, dass diese Einordnung aber nicht zwingend auch jeden erreicht, der in den sozialen Medien frequentiert. Wer Donald Trumps ungefilterten Tweet zu einer Mauer nach Mexiko zu erst bei Twitter gelesen hat, der konsumiert darüber hinaus nicht zwangsweise auch ein Medium, das diesen Tweet einordnet und damit nachfiltert, oder ist durch das Konsumieren der ungefilterten Variante bereits voreingenommen und lässt sich von der gefilterten Variante nur wenig beeindrucken. Zahlen dazu zeigen jedoch, dass das nur auf einen winzig kleinen Teil der deutschen Bevölkerung zutrifft. Laut der Reuters Institute Digital News Survey nutzte 2017 kaum jemand allein die sozialen Medien, um sich über das aktuelle Geschehen zu informieren. Bei lediglich 1,6 Prozent der über 18-Jährigen Befragten ist das demnach der Fall. Ein Großteil der Befragten nutzte ein Potpourri aus verschiedenen Quellen.

Und: weiterhin kann über die Massenmedien insgesamt gesehen ein deutliches größeres Publikum erreicht werden, als über die sozialen Medien – was sich sowohl in Hörer- , Auflagen- und Zuschauerzahlen, als auch in demographischen Daten widerspiegelt. Nach wie vor sind Fernsehen, Zeitungen und Radio bei den Deutschen deutlich beliebter, um sich über das aktuelle Tagesgeschehen zu informieren, als das beim Internet der Fall ist. Ein kurzer Exkurs in Zahlen: Laut der Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse nutzten im letzten Jahr gut 43 Prozent der Deutschen das Fernsehen, gut 26 Prozent, Zeitungen und gut 23 Prozent das Radio, um sich über das aktuelle Tagesgeschehen zu informieren. Das Internet – und damit auch die sozialen Medien – bilden hier mit gut 20 Prozent immer noch das Schlusslicht.

Politiker sind weiter auf die Massenmedien angewiesen

Aus Sicht des Politikers bleiben die Massenmedien dadurch fortwährend ein unverzichtbarer Ausspielkanal für politische Botschaften. Wer über die sozialen Medien hinaus eine größere Öffentlichkeit ansprechen will, der bleibt laut Marcel Solar auf die Massenmedien angewiesen. Denn nach wie vor bekommen deutlich mehr Menschen die gefilterte, einordnende Nachricht ausgespielt, als den ursprünglichen und gefilterten Tweet, den Post oder das Video.

Zusätzlich kommt aber auch ein weiterer Filter dazu: der Filter durch die Nutzer, der innerhalb der sozialen Medien stattfindet. So haben die Nutzer durch die sozialen Medien die Macht, innerhalb von Sekunden auf Postings, Statements, Videos und vieles mehr zu reagieren. Sie können kommentieren, loben und kritisieren. Sie können ein direktes Feedback geben und dem Politiker mitteilen, was sie über seine Ideen und Vorschläge denken und bilden laut Marcel Solar dem Politiker einen Resonanzboden. Denn auch er kann dadurch einschätzen, wie seine Aussagen wahrgenommen werden – von seinen aktuellen und potentiellen Wählern und auch von den Wählern anderer Parteien. Bedingung sei, dass er sich im Vorhinein genau überlege, was er denn sagen wolle, so Uta Rußmann:

Uta Rußmann zu Postings

„Social Media, egal ob Facebook, Twitter oder Instagram, oder was auch immer LinkedIn, was auch immer verwendet wird, ist ein strategisches Kommunikationstool und jedes Wort, das dort von einem Politiker oder einer Partei gepostet wird, muss wohl überlegt sein. Man muss sich jedes mal überlegen, quasi, wenn ich das jetzt poste, was kann der Backflash sein, also was kann sozusagen passieren. Alles was gepostet wird, jeder Tweet, jeder Text auf Facebook, jedes Foto, jedes Video, ist doppelt zu checken. Also muss doppelt gecheckt werden und sollte natürlich auch wohl überlegt sein, es ist strategisch anzulegen. Also, ich glaube nicht, dass sich Politiker es erlauben können, einfach „ich poste mal schnell was“. Nicht noch am Abend schnell irgendwas posten, nein. Die Wahrscheinlichkeit, dass wenn ich was um 11 Uhr nachts poste, dass es viele lesen, ist eh geriner. Ist wahrscheinlich besser, ich spreche das nochmal ab und poste es am nächsten Morgen um 8, oder um 9.“

Denn so würde man die Gefahr verringern, wie Herr Habeck, wie Frau Klöckner mit ihrem Statement zu Nestlé und wie Annegret Kramp-Karrenbauer mit ihrer Reaktion zum Youtuber Rezo einen Shitstorm zu provozieren – mit all seinen Folgen, mit Kritik, Ärger, Groll und Zorn. So würde man die Gefahr verringern, dass man sich im Nachhinein für ein Statement rechtfertigen müsse. So würde man die Gefahr verringern, dass ein schnell gesetztes Statement auch politische Folgen haben könnte.

Trotz aller Überlegung – eine Garantie dafür, mit einem Statement in den sozialen Medien Anklang zu finden, gibt es nicht. Es gibt keine Formel, die gewährleisten kann, dass ein Politiker mit seinem Posting exakt die Wirkung erzielt, die er sich erwünscht, geschweige denn, dass er damit die unterschiedlichen Meinungen der Nutzer befriedigen kann. Es gibt auch keine Garantie dafür, dass ein Statement stets in seinem Kontext diskutiert, oder nicht stattdessen aus dem Zusammenhang gerissen wird. Es gibt auch keine Garantie dafür, dass eine bestimmte Geste, oder ein unglücklich getroffener Gesichtsausdruck zum Anlass genommen werden, ein Meme zu erstellen, das dann mehr Reichweite erzielt, als der Politiker mit seiner eigenen Facebook-Seite das je könnte.

Dennoch bleibt die Frage ob all das, ob die möglichen Risiken der sozialen Medien, einen Rückzug rechtfertigen. Nimmt man sich dann nicht auch die Möglichkeit, entsprechend zu reagieren, sich zu korrigieren? Vielleicht auch weiteren Ärger abzuwenden? Nimmt man sich nicht auch die Möglichkeit, auf die Fragen der Wähler zu antworten? Nimmt man nicht dann letzten Endes auch den potentiellen, aktuellen und zukünftigen Wählern die Möglichkeit ihre Ideen und Gedanken zu kommunizieren und ihren Sorgen und Ängsten Luft zu machen? Und darf man das als Politiker überhaupt?