Interviews Umdenken

Fridays for Future: die etwas andere linke Protestbewegung

Moritz Sommer - Foto: ipb

Interview mit Moritz Sommer vom Berliner Institut für Protest- und Bewegungsforschung

Der junge Protestforscher Moritz Sommer kann einen beeindruckenden Lebenslauf vorweisen: Studium der Soziologie und Politikwissenschaft in Münster, Enschede, Istanbul, London und Berlin, mittlerweile Doktorand am Institut für Soziologie an der Freien Universität Berlin. Seit 2020 ist Sommer außerdem Mitglied des Vorstands des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung und Mitarbeiter am Deutschen Institut für Integrations- und Migrationsforschung.

Nicht zuletzt beobachtet er die Fridays for Future Bewegung seit ihrer Gründung aus einer soziologischen Perspektive. Er ist unter anderem Co-Autor der Studie “Fridays for Future. Profil, Entstehung und Perspektiven der Protestbewegung in Deutschland.” (2019) und hat mehrfach Teilnehmer der Fridays for Future Proteste in Deutschland zu ihren Motiven und politischen Einstellungen befragt. Die Ergebnisse der aktuellsten Befragungen aus dem September und November 2019 werden demnächst in einem Sammelband veröffentlicht.


Herr Sommer, wo steht die Fridays for Future Bewegung Ihrer Meinung nach im Juni 2020?


Moritz Sommer: Derzeit befindet sich Fridays for Future in einer extrem komplizierten Situation. Das ist einfach zu erklären: Durch die Corona-Krise und die damit einhergehenden Beschränkungen des Demonstrationsrechts, aber auch die große mediale Aufmerksamkeit für die Corona-Krise sind Klimafragen in den Hintergrund gedrängt worden. Gerade weil Fridays for Future im letzten Jahr sehr stark von diesem medialen Interesse und den physischen Protesten vor Ort, über die die Medien viel berichtet haben, gelebt hat, ist es für die Bewegung natürlich eine extrem komplizierte Phase. Mit neuartigen Aktionen wie dem digitalen Klimastreik hat die Bewegung trotzdem versucht, ihre Aktivitäten aufrechtzuerhalten, ihre Leute bei der Stange zu halten, um gewappnet zu sein, falls sich nach Corona dann die Möglichkeit bietet, das Thema Klimaschutz wieder auf die Agenda zu heben.


Sie beobachten die Fridays for Future Bewegung schon seit ihrer Gründung. Lässt sich die Personengruppe, die auf die Straße geht und mehr Klimagerechtigkeit fordert, genauer charakterisieren?


Wir haben mehrere Demonstrationsbefragungen durchgeführt, die erste im März 2019. Gerade zu Beginn war die Bewegung sehr stark durch Jugendliche, sehr stark durch junge Frauen und auch sehr stark durch Protestneulinge geprägt. Das hat sich im Laufe des Jahres verändert. Wir haben dann im September und im November 2019 noch einmal Befragungen durchgeführt: Da zeigt sich, dass sich Fridays for Future stärker normalisiert hat. Später sind auch immer mehr Erwachsene auf die Straße gegangen, die Jugendlichen waren nicht mehr ganz so präsent wie am Anfang und es waren auch nicht mehr so viele Protestneulinge dabei, weil sich viele Jugendliche eben durch Fridays for Future politisiert und Protesterfahrung gesammelt haben. Der jugendliche Charakter und der hohe Frauenanteil waren für uns die wesentlichen Faktoren. Weitere Faktoren sind zum Beispiel die überdurchschnittlich hohe Ausbildung oder der bildungsbürgerliche Hintergrund, die Protestbewegungen aber im Allgemeinen auszeichnen.


Welches Ergebnis hat Sie im Zusammenhang mit Ihren Studien zu Fridays for Future am meisten überrascht?


Dass wir bei Fridays for Future eine jugendliche Altersstruktur haben, das war jetzt nicht überraschend. Aber es war schön, das im Vergleich zu anderen Protestbewegungen noch einmal in Daten festzuhalten. Überraschend war sicherlich die sehr starke Beteiligung von jungen Frauen. Dazu kommen noch bestimmte politische Einstellungen und ein spezielles Allgemeinbild der Aktivisten: Bei Fridays for Future haben wir es zwar mit einer Protestbewegung zu tun, die sich gegen die Politik der Bundesregierung richtet, sie stellt im Vergleich zu anderen linken Protestbewegungen, die wir untersucht haben, aber systemkonforme Forderungen auf. Sie sagt zum Beispiel, dass die Politik ihre Versprechen einhalten soll, es geht ihr aber nicht um einen radikalen Umsturz. Das sieht man auch ganz stark an den Einstellungen der Befragten: Sie haben im Vergleich zu anderen Protestbewegungen ein hohes Vertrauen in die Demokratie und die demokratischen Institutionen in Deutschland. Die Institutionen werden schon kritisch gesehen, aber im Vergleich zu anderen Protestbewegungen zeigt sich da keine generelle Politikverdrossenheit, sondern eine hohe Identifikation mit dem politischen Gefüge in Deutschland.


Wie erfolgreich war die Klimabewegung in diesem Jahr, beispielsweise mit ihrem Online-Klimastreik im April oder mit der Public Climate School im Mai, im Vergleich zum ereignisreichen vergangenen Jahr, in dem es vier globale Klimastreiks gab?


Die Einschränkungen durch Corona sind massiv, die Aufmerksamkeitsökonomie folgt jetzt neuen Gesetzen und das Thema Klimaschutz ist auf der Agenda nun eben weiter nach unten gerutscht. Das sind alles ganz andere Vorzeichen im Vergleich zum letzten Jahr. Wir können die Aktionen aus diesem Jahr deshalb nicht mit den globalen Klimastreiks aus dem vergangenen Jahr vergleichen. Es ist ganz klar, dass die Bewegung an den globalen Aktionstagen 2019 mit ihrer massiven Präsenz auf den Straßen eine ganz andere Wirkung entfacht hat als mit dem Online-Klimastreik in diesem Jahr.

Ich würde eher den Vergleich zu Protestaktionen von anderen Akteuren, die es bisher online gegeben hat, ziehen: Wenn man die als Maßstab nimmt, war der Online-Klimastreik im April durchaus erfolgreich. Die Aktivisten haben es trotz allem geschafft, für eine kurze Zeit den Corona-Fokus der Medien zu durchbrechen. Auch im Nachhinein wurde darüber berichtet. Dazu kommt, dass ich die Aktion als ausgesprochen kreativ wahrgenommen habe. Es ging über die reine Nutzung von Hashtags bei Twitter hinaus, indem es einen Livestream und die zahlreichen Plakate vor dem Bundestag gab. Das habe ich so bei noch keiner anderen Protestbewegung gesehen. Ich glaube, da hat Fridays for Future sehr gut, sehr schnell reagiert und die Aktion logistisch sehr gekonnt umgesetzt. Es ging zwar mehr darum, die eigenen Leuten zu motivieren und zu zeigen, dass es mit Fridays for Future weitergeht. Vor dem Hintergrund dieser schwierigen Bedingungen fand ich das eine durchaus gelungene Aktion.


Welche Rolle spielen dabei andere Bewegungen, mit denen die Klimabewegung sozusagen in Konkurrenz um die öffentliche Aufmerksamkeit steht? Ich denke da zum Beispiel an die Black Lives Matter Bewegung, aber auch an Verschwörungstheoretiker oder Impfgegner, die in diesem Jahr große Proteste organisiert haben. Die Medien haben sich größtenteils auf die Proteste dieser Bewegungen konzentriert.


Ich glaube nicht, dass die Fridays for Future Aktivisten in ihren Strategiesitzungen das so wahrnehmen, dass sie anderen progressiven Bewegungen das Medieninteresse streitig machen müssen. Da sind die Aktivisten reflektiert genug, um zu verstehen, dass Rassismus oder Polizeigewalt in Deutschland und auf der Welt zentrale Themen sind. Da wird niemand sagen, dass es blöd ist, dass Black Lives Matter so viel Aufmerksamkeit bekommt. Ich glaube eher, dass Fridays for Future jetzt versucht, über das Thema Klimaschutz hinaus andere gesellschaftliche Themen aufzunehmen und Allianzen zu schmieden. Ich gehe nicht davon aus, dass die Black Lives Matter Bewegung der Klimabewegung in irgendeiner Weise Konkurrenz machen wird. Es spricht ja nichts dagegen, dass mehrere Bewegungen unterschiedliche Themen in der Gesellschaft vorantreiben und Medieninteresse generieren. Die Hygiene-Demonstranten und Verschwörungstheoretiker könnte Fridays for Future eher als Konkurrenz wahrnehmen. Allerdings nicht im Kampf um das Medieninteresse, sondern im Sinne eines aufklärerischen Auftrags und einer gesellschaftspolitischen Verantwortung, weil sie diesen Verschwörungstheorien in der Debatte wissenschaftliche Erkenntnisse gegenüberstellen kann.


Sie haben Fridays for Future schon vor der Corona-Krise an einer Art Wendepunkt gesehen und prognostiziert, dass die Mobilisierungsfähigkeit zu großen Demonstrationen nachlassen wird. Hat die Corona-Krise diesen Eindruck bestätigt?


Ich glaube kaum, dass sich jemand in der Politik von Online-Protesten wirklich unter Druck gesetzt fühlt. Es ist etwas anderes, wenn sich Hunderttausende vor dem Bundestag versammeln. Das heißt: Wenn Fridays for Future als Bewegung weiter aktiv sein und auch Druck auf die Politik aufbauen will, dann wird es darum gehen, wieder auf der Straße aktiv zu sein. Die Corona-Krise trifft die Bewegung hart, weil sie sich eben schon vorher in einer Findungsphase befand. Ich bin schon vor Corona davon ausgegangen, dass Fridays for Future überlegen muss, wie man es mit anderen Aktionsformen wieder schafft, ein stärkeres Medieninteresse zu generieren und Ermüdungserscheinungen in der Bewegung, die es im Winter gab, entgegenzuwirken. Es kann nicht die Idee sein, einfach wieder jeden Freitag die Schulstreiks durchzuführen. Es braucht eine Art Erneuerung. Generell würde ich es aber nicht als Abgesang der Bewegung verstehen, wenn die Mobilisierungskraft nachlässt. Es ist normal für eine Bewegung, dass in manchen Phasen mehr los ist und in anderen weniger. Das heißt nicht, dass die Bewegung in sich zusammenfällt.


Was halten Sie vom neuen Ansatz der Bewegung: weg von freitäglichen Demonstrationen, hin zu projektbezogenem Arbeiten und anlassbezogenen
Protesten?


Generell glaube ich, dass das der richtige Ansatz ist. Es sind auch immer wieder Sachen dabei, die Quatsch sind oder sich hinterher als Fehler herausstellen, wie zum Beispiel das geplante Event im Berliner Olympiastadion, das in der medialen Rezeption eher ein Eigentor war. Die Idee, stärker auf die Verantwortung der Wirtschaft zu gehen, einzelne Akteure wie Siemens stärker in den Blick zu nehmen, halte ich für eine sinnvolle Strategie. So spricht die Bewegung die Verantwortlichen für den Klimawandel direkt an und nicht nur die Bundesregierung. Dass man versucht, partiell mit anderen Akteuren, wie jetzt zum Beispiel mit der Gewerkschaft ver.di und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, zusammenzukommen, halte ich ebenfalls für eine sinnvolle Strategie, um das Thema Klimaschutz noch breiter in die Gesellschaft zu tragen.


Im vergangenen Jahr haben sich viele neue Teilgruppen der Klimabewegung gegründet: die Students for Future, Parents for Future oder Scientists for Future.
Welche dieser Teilgruppen kann denn am meisten zum Erfolg der gesamten For Future Bewegung beitragen?


Manchmal verstehe ich selbst nicht ganz, inwiefern diese Teilgruppen überhaupt Teil der Bewegung sind und frage mich, ob sie nur eine Email-Liste oder WhatsApp-Gruppe sind. Klar können diese Teilbewegungen dazu beitragen, dieses Thema gesellschaftlich noch einmal breiter zu verankern, indem es über den Zirkel der Jugendlichen hinaus in Unternehmen oder Familien getragen wird.

Müsste die Klimabewegung ihre Vernetzung mit den Wissenschaftlern, die sie unterstützen, nicht noch weiter intensivieren? Bei den Scientists for Future sind immerhin einige Wissenschaftler mit großem (politischem) Einfluss dabei. Ich denke da zum Beispiel an die deutsche Transformationsforscherin Maja Göpel.


So wie ich das wahrgenommen habe, war der Austausch mit der Wissenschaft bislang auch nicht klein. Es gab ja zum Beispiel Treffen mit dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Das ist schon ein starker Schulterschluss mit der Wissenschaft und wissenschaftlicher Erkenntnis. In der Corona-Krise ist die gesellschaftliche Relevanz der Wissenschaft noch einmal gestiegen. Von daher wäre es nicht verkehrt, den Kontakt zu den Scientists for Future noch einmal zu intensivieren.

Die jungen Aktivisten werden nicht müde zu betonen, dass Fridays for Future eine dezentrale Bewegung ist. Die Reduktion auf die bekannten Köpfe, zum Beispiel Luisa Neubauer oder Carla Reemtsma, gefällt den Aktivisten häufig gar nicht. Müsste sich die Bewegung nicht gerade etwas zentraler organisieren und ihre populärsten Gesichter noch bekannter machen, um wieder erfolgreich zu sein?


Gerade Luisa Neubauer war zuletzt ja extrem präsent. Da fände ich es eher sinnvoll, andere Mitglieder der Bewegung zu stärken, für mehr Diversität zu sorgen und Luisa Neubauer nicht in jede Talkshow zu schicken. Es ist nicht ihre Bewegung, sie ist nur eine der Sprecherinnen. Ich finde nicht, dass sich die Bewegung weiter zentralisieren muss. Im Gegenteil liegt die Stärke dieser dezentralen Organisationsform darin, vielen Aktivisten Gewicht zu geben und viele Stimmen miteinzubeziehen. Das würde ich auf jeden Fall beibehalten und nicht auf eine stärkere Professionalisierung und Personalisierung drängen.


Im September 2021 steht die nächste Bundestagswahl an, die die Klimabewegung wieder zur Klimawahl machen will. Welchen Einfluss können Fridays for Future und ihre Teilbewegungen auf diese Wahl nehmen?


Das steht und fällt mit der Entwicklung der Corona-Pandemie. Wenn das Coronavirus dann keine Rolle mehr spielt, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Klimakrise wieder auf die Agenda kommt. Wenn es zum Beispiel wieder einen extrem heißen Sommer vor der Wahl gibt oder es zu einer Eskalation wie im Hambacher Forst kommt, dann kann ich mir schon vorstellen, dass Fridays for Future diese Aufmerksamkeitsfenster nutzen kann. Dann werden die Grünen mit Sicherheit stark davon profitieren und dann wird das Klima auch ein wichtiges Thema vor der Wahl sein. Aber es kann auch anders kommen.

Bräuchte es nicht schon jetzt eine langfristige Strategie, um die Politik im nächsten Jahr wirklich unter Druck setzen zu können?


Ich gehe mal davon aus, dass sich die Strategen bei Fridays for Future darauf vorbereiten und sicherlich jetzt schon Diskussionen laufen werden. Ich glaube schon, dass es da Überlegungen gibt. Ich habe Fridays for Future bisher als sehr strategisch und gut aufgestellt kennengelernt und gehe davon aus, dass so etwas Zentrales wie die Bundestagswahl ein zentraler Fokus sein wird.


Wie kann Fridays for Future Druck auf Politiker aufbauen, die sich derzeit als erfolgreiche Krisenmanager inszenieren und sich in traumhaften Umfragewerten sonnen?


Gerade ist es echt schwierig. Es geht ja auch darum, nicht als unsolidarisch
wahrgenommen zu werden, indem man die Corona-Krise kleinredet oder Hygiene-Bestimmungen infrage stellt. So macht man sich angreifbar, das kann nicht die Strategie sein. Es ist sicherlich kein guter Moment, um Söder und Co. direkt unter Druck zu setzen. Es geht weiter darum, das zentrale Anliegen Klimaschutz auf die Agenda zu heben. Fridays for Future muss darauf hoffen, dass die Corona-Krise abklingt, und dann die Gelegenheit nutzen. Dann werden sich auch die Umfragewerte wieder ändern und die Grünen werden zulegen. Es geht jetzt eher um eine mittelfristige Strategie als darum, Söders Krisenmanagement in der Corona-Krise zu diskreditieren.

Zum Abschluss noch der Blick in die Glaskugel und die Frage: Quo vadis, Fridays for Future?


Über die unmittelbaren Herausforderungen haben wir gesprochen. Das hängt vom Pandemie-Geschehen ab. Ich gehe davon aus, dass die Umweltbewegung weiter stark sein wird, weil sich extrem viele Jugendliche in der Bewegung stark politisiert haben. Ich gehe auch davon aus, dass Fridays for Future ein zentraler Akteur bleiben wird. Wenn es um das große Thema Klimaschutz geht, ist es aber im Prinzip unerheblich, ob die Bewegung fortbesteht oder sich die Aktivisten bei anderen Akteuren weiter engagieren. Ich gehe auf jeden Fall davon aus, dass sich diese Jugendlichen weiter für den Klimaschutz engagieren werden. Abgesehen von dieser Corona-Herausforderung sind das gute Voraussetzungen für die Klimabewegung. Natürlich wird auch das Thema Klimaschutz in den nächsten Jahren weiter an Bedeutung und Virulenz gewinnen. Da braucht es auf jeden Fall eine starke Bewegung.