Daten sammeln für die Wahrheit, Wahrheit

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

Abends in der WG: Niemand von uns kann kochen und so entscheiden wir uns, mal wieder, dafür Essen zu bestellen. Meine Mitbewohnerinnen und ich können uns recht schnell auf Italienisch einigen. Lieferheld bietet uns so ziemlich genau 23 Pizzerien im näheren Umfeld und wir wählen, statt uns einmal den Namen eines guten Anbieters zu merken, eine der mit den Vier-Sterne Bewertungen aus, die gleichzeitig von mindestens hundert Menschen bewertet wurde. Wo es vielen schmeckt, wird es uns schon passen. Dass auch eines der neuen, nicht bewerteten Restaurants geniale Pizza anbieten könnte, oder eine der drei Sterne Imbisse die vegetarischen Nudeln genau so macht, wie sie meiner Mitbewohnerin schmecken – geschenkt. Wir minimieren lieber das Risiko, statt zu experimentieren.

Später schaue ich mir auf Amazon Prime einen Film an, den 1349 Menschen im Durchschnitt solide 3,5 Sterne verpasst haben und erwarte irgendwie automatisch auch gut unterhalten zu werden. Schließlich fühle ich mich als ein Mensch innerhalb der Norm, zumindest was die Erwartungen an wenig anspruchsvolle Action-Thriller angeht. Vor dem Schlafen google ich einen HNO, bei dem ich nächste Woche einen Termin machen will. Mir fällt auf, wie schlecht die jameda-Bewertungen Dortmunder Ärzte doch sind und ich frage mich, ob die Patienten hier besonders anspruchsvoll sind oder sich wirklich nur die unfähigen Ärzte in der Stadt niederlassen.

Dass uns in dieser recht unpersönlichen Online-Welt eine Bewertung durch viele Menschen hilft, Vertrauen zu einem Produkt oder einem bestimmten Dienstleister aufzubauen, wird wohl niemand bestreiten können. Solange wir nicht die sind, die bewertet werden, empfinden wir das System als fairen Service. Was aber, wenn manplötzlich auf die Idee käme uns alle in der Funktion als Bürger zu bewerten? Die Daten, die eine solche Diagnose unserer Gewohnheiten, Schwächen und Stärken möglich machen, geben wir bereits hier in Westeuropa tausendfach freiwillig heraus. Es fehlt nur eine Macht, die sie bündelt und in ein System übersetzt. In China ist es bereits soweit, dort läuft ein Bewertungssystem für Menschen in der Testphase.

Vertrauenswürdigkeit und Allgemeinwohl

Ab 2020 soll das „Social Credit System“ dann verpflichtend für alle Milliarden des Landes werden. Das System soll die Vertrauenswürdigkeit der Bewohner bewerten. In ihrem Buch „Who can you trust“ zeichnet Rachel Botsman diese Entwicklung nach, die gerade in der Planungsphase ist und von der chinesischen Regierung an einige Datenunternehmen in Auftrag gegeben wurde. Dann hat jeder Mensch einen Online-Score zu verantworten, der durch tägliche Aktionen sinken und steigen kann. Vieles läuft ganz automatisch ab.

Das geht von der Kreditwürdigkeit, die anhand pünktlich bezahlter Rechnungen bewertet wird, über die Posts in sozialen Netzwerken, die befreundete Personen absetzen und somit auch irgendwie außerhalb des direkten Einflussbereichs liegen. Auch Verhalten ist ein Bewertungspunkt. Welche Produkte kauft jemand und wann hält er sich wo auf, wie lange schaut er in Mediatheken und Videoangeboten Filme. All das fließt in den großen geheimen Logarithmus mit ein.

Mit guten Scores bekommen die Menschen leichter ein Darlehen, müssen weniger Sicherheiten hinterlegen, wenn sie ein Auto leihen, dürfen am Flughafen Priority nutzen und so weiter. Bootsman findet heraus, dass selbst auf dem größten Datingportal Chinas die Personen, die bereits testweise am SCS teilnehmen und ein gutes Rating vorweisen, prominenter gerankt werden als andere. So wird dann jeder, auch der privateste Lebensbereich vom Credit-System durchdrungen. Dass somit ein Ausrutscherposting in einer persönlichen Extremsituation Zukunftsträume schlichtweg zerstören kann und auch dass Fehler und Scheitern in unserer Gesellschaft dazugehören und einen Lerneffekt nach sich ziehen, spielt alles keine Rolle.

Probleme und individuelle Sonderfälle

Auch trifft das System Bewertungsentscheidungen anhand von Vermutungen und Generalisierungen. So wird ein Mann, der regelmäßig Windeln kauft, automatisch als vertrauenswürdiger eingestuft, als einer, der Zigaretten kauft und damit, aufgrund seiner Abhängigkeit, scheinbar leichter korrumpierbar ist.

Hier ergibt sich ein Kausalitäts- und Korrelationsproblem, so könnte ein Mann, der Windeln kauft doch auch nur, der Fall ist nicht wahrscheinlich, aber eben nicht unmöglich, einen ganz besonderen Fetisch haben. Nur eines von vielen Problemen eines Systems, das generalisiert über Big Data abläuft und somit individuelle Sonderfälle, die der Algorithmus nicht kennt oder als unwahrscheinlich abtut, beiseite lässt.

Etwas dringlicher stellt sich aber die Frage nach den Maßstäben, die hier angelegt werden sollen. Bei Lieferheld wird das bestschmeckendste Essen bewertet (was ja auch durchaus Geschmacksurteil ist, aber zumindest Temperatur und Timing sind objektive Kriterien), oder in Filmdatenbanken der beste, unterhaltsamste, einzigartigste Film. Schon da wird es kompliziert. Wie aber Menschen bewerten. Wer bestimmt was sinnvolles Verhalten, welche Aktionen gut und welche schlecht sind? Die Macher des Social Credit Systems scheinen da eine klare Vision zu haben: Ein System, was das Leben für alle besser machen sollen, denn alle ziehen ja an einem Strang. Dem Strang, der alle zu einer besseren Gesellschaft führt.

Wer bestimmt, was „gut“ ist?

Die Idee, die Gesellschaft zu einer besseren, faireren umzustrukturieren ist an sich nichts Schlechtes. Auch eine gewisse Transparenz in der Gesellschaft, die nötig ist dies zu erreichen, wird wohl niemand bestreiten. Tatsächlich findet sich in der modernen Ökonomie eine Bewegung, die von vielen Seiten Lob bekommt, die sich auch das Ziel einer besseren Gesellschaft vornimmt. Die Rede ist von Christian Felbers Gemeinwohlökonomie. Felber schreibt in seiner Gemeinwohlökonomie von einem Wirtschaftsmodell, welches sich nicht an der Profitvermehrung, sondern am in der Verfassung vorgeschriebenen Gemeinwohl orientiert. Unternehmen sollen für Nachhaltigkeit belohnt werden, nicht mehr aufgabenfremd investieren, der Bankensektor soll vollständig umstrukturiert werden. Bei der Kreditvergabe, bei Investitionen, bei staatlicher Förderung, immer soll das Gemeinwohl und nicht die Gewinnmaxime das Ziel sein. Wobei Felber betont, dass er das System der freien Marktwirtschaft beibehalten möchte, er setzt auf Belohnungen und Selbstkontrolle des Marktes. Eigentlich genauso, wie im Social Credit System Belohnungen für die Vertrauenswürdigen stehen und man aus Angst vor negativen Konsequenzen sich selbst und die Personen mit denen man in Kontakt steht kontrollieren wird.

Nun hört sich die Vorstellung, dass Banken, Unternehmen und Individuen für das Gemeinwohl der Gesellschaft arbeiten durchaus wie ein Ziel an, für das sich eine gewisse Aufgabe kapitalistischer Freiheit, wie wir sie heute in unserem System finden, lohnt. Doch wer definiert das Gemeinwohl? Könnten nicht Chinas Machthaber die Kontrolle, die sie durch das System erlangen als Gemeinwohl, als Sicherheit für alle, ausgeben? Oder eben als Vertrauenswürdigkeit, die dadurch messbar wird und somit Fehleinschätzungen von Menschen und somit Schaden abwendet.

Und hier kommt die Krux und der entscheidende Unterschied in den Denkansätzen, die die Gemeinwohlökonomie zum allgemein fair und gutgeheißenen, wenn auch schwer umsetzbaren Projekt, und das chinesische Social Credit System zur düsteren Zukunftsvision machen. Denn laut Felber kann dieser Prozess der Definition eines gesellschaftlichen Ziels nur demokratisch ablaufen. Indem alle Bürger mitreden können, was denn nun das Wohl aller ist. Er schlägt hier eine dreistufige, semidirekte Demokratie vor, die über das Wohl der Allgemeinheit berät und Volksabstimmungen miteinbezieht.

In der chinesischen Vision aber ist es mitnichten das Volk oder eine Mehrheit, die diese Entscheidungen fällt. Sondern eine kleine Elite, die neben dem vorgeschobenen Ziel der „vertrauenswürdigen Gesellschaft“ sicher noch ein anderes hat: Nämlich seine Machtposition zu erhalten.

Anti-Aufklärung?

In Deutschland haben wir das Glück einer frei gewählten Regierung. Können wir also das Treiben im fernen China nur als Umwandlung des autokratischen Politsystems ins digitale Zeitalter betrachten, weitab unserer Realitäten? Wohl kaum. Ein Bewertungstrieb, sowie der Wunsch durch eine Drittinstanz Vertrauen herzustellen, scheint fast jedem Menschen angeboren und wenn es auch hierzulande nicht die Politik sein mag, die so ein System ins Spiel bringt, kann man doch die Macht der großen Technologiekonzerne nicht unterschätzen.

Man denke nur an den ungebremsten Run der Apple-Anhänger auf des IPhone X. Hier stellt sich niemand mehr den logischen Argumenten der Datenschützer, die die Entsperrung per Gesichtserkennung wie auch schon den Fingerabdruckscanner als Risiko identifizieren. Und seien wir mal ehrlich: Brauchen tut diese Technologie doch wirklich niemand. Es ist vielmehr der Reiz des Spielens mit neuer Technologie und den Möglichkeiten und natürlich das In und Up to Date sein. Und so ist es doch durchaus vorstellbar, dass, sollte beispielsweise Apple eine iRate-Technologie einführen, ihr eine menge Million Menschen willen- und widerstandslos folgen könnten.

Stellen wir uns also ein Land vor, in dem die gesellschaftliche Aktivität eines jeden von uns bewertet wird. Das chinesische Social-Credit-Modell gilt für jeden Bürger unseres Landes, eine große Technologiemacht hat es verstanden, all unsere freiwillig dargebotenen Daten in ein großes Bewertungssystem zu übersetzten: Laufen wir dann nicht grinsend, überfreundlich und uns selbst verleugnend durch die Welt, wie es beispielsweise die englische TV-Serie Black Mirror in einer ihrer Episoden zeigt. Soweit muss man noch nicht mal gehen. Aber wie weit darf ein System unsere individuelle Unabhängigkeit einschränken? Besonders wenn es nur zu unserem Besten ist, über das wir selbst aber gar nicht entscheiden konnten. In unserer immer noch freiheitsliebenden und selbstbestimmenden Gesellschaft in Deutschland scheint ein so totalitär durchgesetztes Projekt also doch noch utopisch. Glücklicherweise.

Vertrauen wir Rousseau!

Findige Menschen könnten nun trotzdem in der Verbindung von basisdemokratischer Abstimmung über Ziele, wie sie Felber vorschlägt und Credit-System einen sinnvollen Kontrollmechanismus sehen, der Ausbeutung, illegales Wirtschaften und Vitamin-B-Aufstiege mit der transparenten Bewertung eines jeden, verhindert. Doch wer garantiert uns wirklich, dass die Mehrheit in der Bestimmung des Gemeinwohls immer nüchtern und mit Blick auf Schwächere und individuelle Ausnahmen entscheidet? Vertrauen wir also Rousseau, der vom Gutsein eines Menschen und auch einer Schwarmintelligenz ausgeht.

Eine Bestätigung für jeden, sich auf den Geschmack der Masse, auf Lieferheld- und Amazon-Bewertungen zu verlassen? Aber mal ernst gedacht. Zieht diese berüchtigte Schwarmintelligenz auch, wenn nach einem grausamen Sexualmord über das Strafmaß für Mord abgestimmt wird?

Vielleicht ist es klüger, immer mal wieder eine Schwarmdummheit und den Volkszorn im Kopf zu haben und sich nicht automatisch darauf zu verlassen, dass eine Mehrheitsentscheidung über Gemeinwohl auch automatisch das Beste für eine Gesellschaft darstellt, die sich daran messen muss „wie man dort mit Minderheiten umgeht“. Dieser beliebte Politikerspruch geht gut zusammen mit der Emanzipation des Individuums, einem Grundgedanken der Aufklärung, die auch einen weiteren wichtigen Aspekt beim Bedenken der obigen Systeme hinzugibt: Dass uns die Vernunft immer ein wichtiger Begleiter sein soll, auch wenn wir damit mal gegen vorherrschende Normen und Bewertungen verstoßen. Und dieses vernunftbedingte Ausscheren lässt sich nur schwer in ein allgemeingültiges Bewertungssystem übersetzen.