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Sprechen wir über Wahrheit

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Journalisten haben einen ganz eigenen Anspruch an die Wahrheit. Vor allem daran, die Wahrheit in ihrer Arbeit abbilden zu wollen. Auf gewisse Weise basieren journalistische Qualitätsstandards wie „Objektivität“ und „Richtigkeit“  auf der Annahme, es gäbe eine vom Menschen losgelöste Wahrheit, an die man sich, nimmt man sich als Berichterstatter nur weit genug zurück, annähern kann – in der Form, dass man sie nicht verfälscht. Aber: Ist das überhaupt möglich? Vielleicht kann Markus Gabriel, junger Shooting-Star der Philosophie, uns bei der Beantwortung dieser Frage helfen.

von Hannah Schmidt

Der Anspruch, den Menschen an den Journalismus stellen, ist derjenige, umfassend und möglichst unverfärbt über Tatsachen informiert zu werden. Stimmen die berichteten Tatsachen nicht mit dem überein, was der Rezipient oder die Rezipientin für die „wahren“ Tatsachen hält, wird jedoch vor allem in den letzten Jahren schnell das Wort „Lüge“ in den Mund genommen, wird von Fälschung, von „Fake News“, gesprochen. Das bringt eine persönliche Ebene ins Spiel, die erst einmal mit dem Berichteten gar nichts zu tun hat: Schließlich ist eine Lüge eine absichtliche Falschdarstellung einer Sache, in vollem Bewusstsein ihrer Falschheit, genauso eine Fälschung, die sogar per definitionem etwas zuvor richtig oder „wahr“ Gewesenes ver-fälscht, also derart verändert, dass es nicht mehr wahr ist. Das alles sind aber Handlungen, die man nach dem Lesen, Hören oder Sehen eines journalistischen Berichts nicht beurteilen und dem professionellen Journalisten erst recht nicht unterstellen kann.

Es scheint, als liege das Problem des immer salonfähiger werdenden Skeptizismus dem Journalismus gegenüber also nicht unbedingt an einem einzelnen oder mehreren journalistischen Produkten oder an den Menschen, die nach dem Lesen, Hören oder Sehen „Lügenpresse“ rufen oder „Fake News“ unterstellen, sondern an dem Wahrheitsbegriff, der hinter all dem steht, und an einer Art moralischen Vorstellung davon, wie mit dem, was man für die „Wahrheit“ hält, umgegangen werden darf. Was aber ist „Wahrheit“, was ist das, was Journalismus in dieser Hinsicht leisten soll, muss und überhaupt leisten kann? Ist „Neutralität“ wirklich die Lösung?

Achja, „Kant hat sich geirrt“?

Ein junger Bonner Philosophieprofessor, Markus Gabriel, eignet sich als Figur und mit seiner Theorie besonders gut, diese Fragen anzugehen. Einerseits macht er in den letzten Jahren mit seinen erkenntnistheoretischen Fragen und Thesen zum Thema Welt und Wahrheit Furore, er äußert sich mit klarer Meinung zu Politik und Journalismus, andererseits ist die Art, wie er seine Theorie stützt, argumentiert und versprachlicht, auf interessante Weise widersprüchlich zu seiner Philosophie. Der 37-Jährige sagt in Talkshows Sätze wie „Kant hat sich geirrt“ und nimmt für sich in Anspruch, mit wenigen Worten, in halbstündigen Vorträgen oder knapp über 200 Seiten schmalen Büchern Schwergewichte wie Jacques Derrida, René Descartes, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger oder gleich ganze Strömungen wie den Konstruktivismus, den Empirismus oder den Naturalismus mal eben zerlegen zu können. Häufig wird ihm unterstellt, dabei einerseits arg verkürzend vorzugehen und andererseits wichtige Philosophen, deren Theorien durchaus Berührungspunkte mit seiner eigenen haben, ganz außen vor zu lassen.

Dennoch: Was Markus Gabriel trotz seines Übermuts und dem provokativen, scharf an Populismus grenzenden Ankläffen ungefähr aller Koryphäen der Philosophiegeschichte – oder vielleicht gerade durch diese Vorgehensweise – schafft, ist eine Argumentation, die besonders einleuchtend und stringent geführt ist und damit sehr erfrischend. Manches wirkt auch beim zweiten Lesen ein bisschen zu einfach gehalten, ein bisschen zu knapp, um wirklich „wahr“ zu sein, und für den Journalismus zieht das keine revolutionären Konsequenzen nach sich. Es liefert aber vor allem durch die Darstellung neuen Ansporn und eine solide Argumentation für einen modernen Qualitätsbegriff für den Journalismus.

Alles existiert – nur das große Ganze nicht

Was Markus Gabriel in seinem Buch „Warum es die Welt nicht gibt“ darlegt, ist vor allem eine Begriffskritik. „Die Welt“ ist bei ihm nämlich nicht etwa der Planet Erde oder das Universum, also etwas Physikalisches, sondern ein „Alles“, etwas, das sozusagen der Überbegriff für alles Existente ist und es in sich einschließt. Warum es das nicht geben kann? In Markus Gabriels Argumentation gibt es für Menschen erkennbare Tatsachen – solche, die innerhalb der Vorstellung, und solche, die auch außerhalb derselben existieren. Alles existiert bei ihm aber immer nur in einem Zusammenhang, in einem so genannten Sinnfeld (was große Ähnlichkeit zu Immanuel Kants „Kategorien“ aufweist).

Ein Beispiel: Eine Kuh auf einer Wiese ist nur diese bestimmte Kuh, weil sie auf dieser Wiese steht – dabei ist auch erst einmal irrelevant, ob diese Kuh tatsächlich irgendwo auf einer Wiese steht oder dies nur in den Gedanken eines Menschen tut. Die Wiese wiederum existiert auch in einem Sinnfeld, in einem Land, in einem Buch oder auf einem Foto. Die Kuh ist zudem eine völlig andere Kuh, ob sie nun im Sinnfeld der Physik erscheint – Moleküle, Biomasse etc. –, in einer Religion, in der sie gottgleich heilig ist, oder als Wachsmalbild eines Kindes. Dieser Argumentation zufolge gibt es nichts, was nicht in irgendeinem Sinnfeld erscheint, und das ist der zentrale Punkt: ein „Alles“, ein „die Welt“, könnte es also schon deshalb nicht geben, weil der Begriff für sich in Anspruch nimmt, alles zu vereinen – also auch das eigene Sinnfeld, in dem er erscheint. Diese Welt in der Welt in der Welt in der Welt vergleicht Gabriel mit der Suche nach der größten Primzahl, die auch nicht existiert, weil es immer eine noch größere gibt.

Die Argumentation hinkt an einer Stelle:

Gabriel stülpt nämlich die menschliche Wahrnehmungsweise auch über alles, was sich außerhalb derselben befindet. Er stellt gar nicht die Frage, ob es außerhalb der menschlichen Wahrnehmungskategorien noch etwas anderes geben könnte. Alles erscheint in der menschlichen Wahrnehmung in Sinnfeldern – diese Argumentation ist leicht nachzuvollziehen. Aber außerhalb der von Menschen nachvollziehbaren Logik? An dieser Stelle ist Gabriel wieder beim kritischen Idealismus Kants (den man, anders als Gabriel behauptet, eher nicht zu der Strömung der Konstruktivisten zählen kann): Hier formen die menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten das individuelle Bild der Welt. Ein Argument, das Gabriel nicht widerlegen kann durch die Behauptung, alles, was der Mensch wahrnehme, sei die Welt (dann wäre er wieder konstruktivistisch unterwegs).

Gabriels Theorie ist zwar eng, aber einleuchtend. „Die Welt“ gibt es nicht, weil sie nicht ihr eigenes Sinnfeld sein kann. Die „Wahrheit“, kann man daraus schließen, ist also ebenfalls außerhalb von Sinnfeldern nicht existent. In einem Vortrag an der Universität Bonn verortet Gabriel seinen Wahrheitsbegriff zwischen der „Korrespondenztheorie der Wahrheit“ des Realismus und dem Wahrheitsbegriff Martin Heideggers. Im ersten Fall versucht der Wahrnehmende, sich selbst als Instanz völlig herauszunehmen und nur den Gegenstand als solchen zu betrachten – also eine These aufzustellen, die dann wahr oder falsch ist, was jedoch in einigen Fällen schwer überprüft werden kann. Der andere verknüpft die Möglichkeit einer wahren Aussage über etwas mit der Voraussetzung, dass dieses Etwas sei. Alles, was „in der Welt ist“, ist wahrheitsfähig, und alles, was wahrheitsfähig ist, ist existent. Markus Gabriel nennt dieses „Irgendetwas ist der Fall“ eine „relativ leere Aussage“.

Der Vorwurf, der dem Journalismus in vielen aktuellen Debatten gemacht wird, ist derjenige, er würde bei dem Versuch, eine existente und überprüfbare Wahrheit darzustellen, scheitern – also eine Vorstellung, die auf einer „Korrespondenztheorie der Wahrheit“ basiert. In manchen Fällen ist der Vorwurf tatsächlich angebracht, wenn es nämlich um nachweisbare sachliche Fehler geht, die die Redaktionen meist selbst im Nachhinein korrigieren. In anderen Fällen, wenn es nämlich um die Darstellung von schwer überprüfbaren Tatsachen und zudem solchen aus einer bestimmten Perspektive, wenn es um Kunst oder Ethik geht, wird es jedoch schwierig.

In komplexen Fällen die Komplexität thematisieren

Laut Gabriel – und deswegen ist seine Theorie so dankbar für eine praktische Anwendung im Journalismus – gibt es Tatsachen und es gibt wahrheitsfähige „richtige“ und „falsche“ Aussagen über sie. Die Tatsachen können dabei sowohl physisch existent und methodisch nachweisbar, als auch imaginiert sein. Gibt es aber Fälle, in denen es nicht nur um richtige oder falsche Aussagen über existierende Tatsachen geht, darf, so Gabriel, der Journalismus nicht davor zurückschrecken, diese komplexen Zusammenhänge zu thematisieren. „Demokratie muss mit dem Anspruch der Wahrheit verschmolzen werden“, sagte er bei einem Gespräch bei der Phil.Cologne im Juni 2017. Konkreter: Auch wenn es „die Welt“ und also auch die eine übergeordnete „Wahrheit“ nicht gibt, gibt es doch innerhalb der Welt Sinnfelder, in denen „Wahrheit“ auftauchen kann, und zwar in Form von wahren Aussagen.

Der „Anspruch der Wahrheit“, kann man ableiten, ist der Anspruch, wahre Aussagen zu treffen – aber aus so vielen Perspektiven wie möglich. Der Fokus verschiebt sich weg vom „richtigen“ Berichten über irgendetwas hin zu einer die Wirklichkeit möglichst wahr abbildenden Auswahl der Nachrichten. „Auch irrelevante Nachrichten sind Fake News“, sagte Gabriel auf seine provokante Art. In politischen Talkshows gehe es nicht mehr darum, Gründe für eine bestimmte Meinung auszutauschen, sondern um „Geräusch“ und Show. In der digitalen Welt sei ohnehin ein Großteil der Informationen „Müll“, der den Raum des Geistes einnähme, sagt Gabriel, gleichzeitig sei die Welt aber komplizierter geworden: „Wenn im Raum des Geistes Müll ist, kann ich da nicht mehr denken“, sagt Gabriel. „Wir brauchen mehr Aufklärung, mehr Philosophen und – wenn ich an ‚Fake News‘ denke – mehr Journalisten.“

Eine neue Form der Themenauswahl muss her!

Was könnte man nun für einen praktizierenden Journalisten aus dieser Theorie ableiten? Zunächst einmal, im Hinblick auf einen einzelnen Bericht: Die Berichterstattung wäre immer aus bestimmten Positionen heraus angreifbar – selbst, wenn der Journalist all diese Positionen mit einbezieht. Multiperspektivität wäre die einzige Möglichkeit, einigermaßen „wahr“ zu berichten. Dabei wäre wichtig, die Sinnzusammenhänge zu erfassen und zu berücksichtigen aus denen die entsprechenden Positionen, auch die des Journalisten, zu verstehen sind. Gleichzeitig müsste über eine neue Form der Themenauswahl nachgedacht werden: Welche Gewichtung und Setzung von Themen und welche Konflikte, Meinungen und Fragen entsprechen den „wahren“ Zuständen in der Welt oder in einem Land, einer Kommune? Dabei wäre Relevanz nicht bestimmt durch das vermutete Leserinteresse – denn das ist auch bei Katzenvideos, der Menge an Eiskugeln für Donald Trump im Weißen Haus und Fußballtabellen vorhanden –, sondern die gesellschaftspolitische Relevanz.

Wie sollte man mit dieser seltsamen „Wahrheit“ und ihren Sinnfeldern nun umgehen? Sollten Journalisten versuchen, sich als Wahrnehmende mitzudenken, und auch kommunizieren, wo sie stehen und was sie sehen? Ja, auf jeden Fall! Die Perspektive, aus der berichtet wird, wäre schließlich grundlegend dafür, den Wahrheitsgehalt bestimmter Aussagen beurteilen zu können. Dafür müsste den Lesern, Hörern und Zuschauern zugetraut werden auch komplexe Sachverhalte zu verstehen. Da liegt konsequent nach Markus Gabriel der Maßstab: Nicht bei der Unterhaltung, sondern bei dem Versuch, das Erschließen der Wirklichkeit zu ermöglichen.

Über die Autorin

Hannah Schmidt ist Masterstudentin am Institut für Musik und Musikwissenschaft 
der Technischen Universität Dortmund, dem Institut für Journalistik der Technischen 
Universität Dortmund und der Sektion für Allgemeine und Vergleichende 
Literaturwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Als freie Journalistin arbeitet 
sie unter anderem für die Ruhr Nachrichten in Dortmund und das Berliner Musikmagazin 
niusic.de des Rondo-Verlags.